Angenommen, Sie sind eine schwarze Frau und bewerben sich um eine Stelle. Sie sind dafür bestens qualifiziert, aber man zieht Ihnen eine weisse Frau und einen schwarzen Mann vor. Frustriert klagen Sie wegen Diskriminierung. Die Klage wird abgewiesen mit der Begründung: Geschlechterdiskrimierung liegt nicht vor, denn man stellt ja eine Frau an; ebensowenig Rassendiskrimierung, denn auch ein Schwarzer kriegt einen Job. Zu Ihrem Pech fallen Sie in die Schnittmenge von weiblich und schwarz. Sie sind Opfer einer Mehrfachdiskriminierung, oder – wie es im Englischen heisst – der „Intersektionalität“ („intersectionality“).
Ein Gerichtsfall
Der Begriff wurde 1989 von Kimberlé Williams Crenshaw eingeführt, Rechtsprofessorin an der University of California. Anlass war ein konkreter Gerichtsfall. In den 1970er Jahren entliess General Motors fast alle schwarzen Arbeiterinnen. Das Gericht wies die Klage der Rassen- und Genderdiskriminierung mit genau der Begründung des obigen Beispiels zurück. Die Schnittmenge „schwarze Frauen“ geriet offenbar nicht ins Gesichtsfeld der Rechtssprechung.
Frau Crenshaw wollte sie sichtbar machen. Wie bei Mengen gibt es Überlappungen von Vorurteilen. Sie können Diskrimierungen verstärken. So wie Charakter- und Identitätsmerkmale von Menschen nie isoliert auftreten, sondern in komplizierter individueller Verflechtung, so muss man der spezifischen sozialen Situation dieser Menschen auch in Rechtsfällen Rechnung tragen. „Demarginalisierung der Schnittmenge von Rasse und Geschlecht“ nannte dies Frau Crenshaw eher akademisch-spröd. (1)
Ein politisches Gift
Sie stiess damit unversehens in ein Problemnest. „Intersektionalität“ wirkt als Sonde für versteckte Verletzbarkeiten, die sich überschneiden. Seither hat sich der Begriff auch auf andere soziale Felder ausgebreitet, und er erweist sich zweifellos als nützlich, insofern als er die Faktoren aufspürt, aufgrund derer man ausgegrenzt und diskriminiert werden kann. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die politische Instrumentalisierung des Begriffs. „Intersektionalität“ hat das Zeug zu einem neuen Knüppelwort postmoderner Identitätspolitik. Und das ist ziemlich wörtlich gemeint, denn in den USA findet gerade eine Debatte statt, in der man mit dem Begriff nur so herumhaut.
Der umstrittene rechtskonservative Politologe Charles Murray wurde von Studenten des Middlebury Colleges in Vermont am Reden gehindert, worauf ihnen der bekannte Publizist Andrew Sullivan „intersektionelle“ Gründe vorwarf, und Intersektionalität im gleichen Zug als Religion abtat. (2) Ein anderer Publizist, Damon Linker, schreibt vor kurzem, dass Liberale „betrunken seien von einem politischen Gift namens Intersektionalität.“ (3) Und die Genderforscherin Jennifer Nash spricht rundheraus von „intersectionality wars“.
Eine Inflation von Minderheiten
Das Problem liegt in der Logik des Begriffs. In einer heterogenen offenen Gesellschaft werden die Schnittmengen möglicher (diskriminierter) Identitäten tendenziell umso kleiner, je mehr Merkmale man anführt. Wie wäre es zum Beispiel mit lybischer Immigrantin, gehbehindert, arbeitslos, Nicht-Muslima, der deutschen Spache unkundig, alleinerziehend? Die Gefahr besteht, dass mit immer mehr Kriterien auch immer mehr Schnittmengen anzutreffen sind und die Leute sich um ihrer Identität willen gegen andere abgrenzen. Eine Inflation von Minderheiten.
Am Ende sind wir alle diskriminiert. Der todsichere Kurs in Richtung Zwietracht, Missgunst, Beleidigtsein, Ressentiment. Nur noch Differenzen; statt gruppenübergreifender Solidarität gruppenverstärkende Intersektionalität. Die New York Times bringt ein Müsterchen. (4) Im Frauenmarsch von Washington mahnte eine schwarze Aktivistin aus der Bronx ihre „weissen Schwestern“ an, sich ja nicht einbilden zu wollen, dass man sich nun verstünde: „Du sollst dich nicht nur anschliessen, weil du jetzt auch Angst hast. Ich wurde mit der Angst geboren.“ Sich gegen die sexistischen Zoten eines spätpubertären Präsidenschaftskandidaten zu vereinigen, heisst nicht, dass man unter sich einige wäre.
Flatus vocis
Frau Crenshaw ist ausgesprochen mulmig zumute angesichts dieser Entwicklung. Sie schuf ein Wort, mit dem sie auf Ungerechtigkeiten in der Rechtspraxis zielte. Nun eiert das Wort ziellos in der identitätspolitischen Diskussion herum, trifft zufällig mal hier mal dort. Und damit winkt der Intersektionalität das gleiche Schicksal wie anderen postmodernen Schlagwörtern: Flatus vocis, warme Luft. – Womöglich hülfe eine elementare Lektion in Mengentheorie: Es gibt nicht nur Schnittmengen, sondern auch Vereinigungsmengen! Auf ihnen basiert nota bene kluge Politik.
(1) http://chicagounbound.uchicago.edu/uclf/vol1989/iss1/8
(2) http://nymag.com/daily/intelligencer/2017/03/is-intersectionality-a-religion.html
(3) http://theweek.com/articles/672265/liberals-are-drunk-political-poison-called-intersectionality