Vom zeitkritischen englischen Maler und Grafiker William Hogarth (1697–1764) stammt eine berühmte Serie von acht Kupferstichen. Diese zeigen unter dem Namen „The Rake’s Progress“ den unausweichlichen Niedergang eines jungen Gentleman, der sich ungebremst seinem Ehrgeiz und den Verlockungen der Welt ergibt.
Vom 18. ins 21. Jahrhundert
Igor Strawinsky, sah die Kupferstiche 1947 eher zufälligerweise im Art Institute von Chicago und war davon sofort fasziniert. Besonders das letzte Bild des Zyklus, dessen Titel mit „Werdegang eines Wüstlings“ übersetzt werden kann, regte den damals knapp 65-jährigen Komponisten an. Der Kupferstich zeigt eine Szene in einem Irrenhaus, in der ein Mann mit einem Buch auf dem Kopf Geige spielt. Strawinskys Entschluss, daraus sein erstes abendfüllendes Werk zu schaffen, führte ihn schliesslich zum englischen Autor Wystan Hugh Auden und dem Lyriker Chester Kallmann, welche gemeinsam das Libretto schufen. Das Wettrennen um die Ehre der Uraufführung 1951 – Strawinsky galt damals ja schon als d e r herausragende Komponist des 20. Jahrhunderts – gewann schliesslich das Teatro La Fenice in Venedig.
Neoklassizistisches Vexierspiel
Selten hat Strawinsky den Begriff „neoklassizistisch“ deutlicher wahr gemacht als in diesem Werk seiner neoklassischen Periode. Die Oper, die mit einem Fanfarenstoss in Händel’scher Manier eröffnet wird, entfaltet vor unseren Ohren Schicht um Schicht zwar Zitate von u. a. Monteverdi, Gluck, Bach, vor allem Mozart und sogar Tschaikowsky und Puccini, bleibt aber immer eingebunden in ein faszinierendes Netzwerk verführerischer, manchmal sogar romantischer, aber auch sanft dissonanter Klänge. Hier lässt ein Könner und Kenner alle Facetten von orchestralen und gesanglichen Facetten nicht nur aufblitzen, sondern bringt es fertig, seine eigenen Intentionen und Klangvariationen begleitend durchschimmern und bruchlos sich ausbreiten zu lassen.
Literarische Anspielungen
Doch beschränken sich die Zitate nicht allein auf die musikalische Umsetzung, sondern finden ihren eigentlichen Ursprung im Libretto, welches die Hogart’sche Vorlage mit dem Wissen um all die literarischen Höhepunkte zwischen 18. und 21. Jahrhundert ausweitet. Durch die Einführung eines „avocat du diable“, des teuflischen Verführers namens Nick Shadow, rückt der hier junge Held Tom Rakewell in die Nähe von Dr. Faustus, ohne jedoch auch nur im Geringsten wie dieser nach Weisheit und Abgeklärtheit zu suchen. Vielmehr sind es Genusssucht und Grössenwahn, welche ihn, seine Liebe zu seiner heimatlichen „Trulove“ vergessen lassend, zuerst in den moralischen und schliesslich auch finanziellen Ruin treiben, um im Irrenhaus zu enden.
Pralinenschachtel-Idyllle
In Basel inszeniert die erfolgreiche junge Lydia Steiert und setzt, einem geglückten Einfall folgend, das Werk in das Innere einer den Bühnenrahmen einfassenden, gepolsterten und abgesteppten Pralinenschachtel (Bühne Katharina Schlipf, Kostüme Ursula Kudrna). Darin bewegt sich die anfänglich ländliche Idylle von Rakewell, Trulove und deren Vater noch ganz rokokohaft eng gefasst, um sich auszuweiten und in orgiastischen Szenerien, welche bis an die Grenzen des szenisch Einsehbaren gehen, zu münden.
Weibliches Triumvirat
Um das Triumvirat weiblicher Leitungspositionen dieser Produktion perfekt zu machen, muss, last but not least, die estnische Dirigentin Kristiina Poska genannt werden. Sie ermunterte das Kammerorchester Basel – eine seinerzeit vom Dirigenten Paul Sacher gegründete Formation – zu einem weichen, fast zurückhaltenden Klang und ermöglichte so den Solisten und dem wie immer hervorragenden Basler Theaterchor, extrem deutlich hervorzutreten.
Vor allem die drei Hauptrollen – ein eleganter, fast unschuldig wirkender Tom Rakewell (Matthew Newlin), ein diabolisch verführerischer Nick Shadow (Seth Carico) und eine hingebend liebende Anne Trulove (Hailey Clark) – waren nicht nur überzeugend, sondern sogar brillant besetzt, begleitet von einem sich spielfreudig und selbstironisch einbringenden Sängerensemble.
Nachdem der Vorhang über dem ganz in Commedia dell’arte-Manier gehaltenen Epilog gefallen war, musste dieser ungezählte Male wieder hochgehen, um den tosenden Applaus des Basler und international angereisten Publikums entgegenzunehmen.
Theater Basel, „The Rake's Progress“.
Nächste Vorstellungen: 22., 24., 27., 30. Mai