Eigentlich, schreibt der Autor in seinem 400 Seiten starken Werk, verdiente der Schweizer Bundesrat einen Eintrag im Guiness-Buch der Rekorde. Abwegig ist diese Bemerkung nicht. Man reiste noch in der Kutsche, holte das Wasser am Brunnen und zündete beim Einnachten ein Talglicht oder die Petrollampe an, als die Schweiz 1848 ihren Bundesstaat gründete und als oberste leitende Behörde einen Bundesrat einsetzte. Heute, 170 Jahre später und nach dramatischen Verwerfungen, die ganz Europa umpflügten, weist diese Behörde noch immer die exakt gleiche Struktur auf wie einst: Sieben Personen, alle sind gleichberechtigt, es gibt keine Richtlinien eines Chefs, weil es keinen eigentlichen Chef gibt, man regiert „kollegial“. Damit ist, wie Vatter anmerkt, die Schweiz die älteste demokratisch gewählte Regierung Europas.
„Ich bin jemand, der …“
Dem Autor geht es allerdings nicht um Beweihräucherung von Alt- bzw. Uraltbewährtem. Er will vielmehr herausfinden, was das für Menschentypen sind, die einst und jetzt in den Bundesrat gewählt wurden. Dazu definierte er fünf Persönlichkeitsmerkmale, nämlich: Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Offenheit und Neurotizismus. Diese Liste unterbreitete er den ehemaligen und amtierenden Bundesräten, die je drei Antworten ankreuzen konnten – beispielsweise zum Neurotizismus: Ich bin jemand, der a) entspannt ist und mit Stress umgehen kann, b) sich oft Sorgen macht c) leicht nervös wird.
Ergänzt durch zahlreiche Interviews mit Regierungsmitgliedern und Drittpersonen kam dergestalt ein umfangreiches Material zusammen, aus dem Vatter herausfilterte und in zahlreichen Tabellen und Grafiken aufzeigt, welchen Schlages unsere Landesväter waren bzw. sind. Umwerfend sind die Erkenntnisse nicht. Es mag zwar durchaus interessant sein zu wissen, dass SVP- und CVP-Bundesräte deutlich extravertierter sind als jene der SP oder dass die Regierung von 1959 (Geburt der Zauberformel) bis in die 1980er Jahre homogener zusammengesetzt war als heute. Aber wer mit nur halbwegs offenen Augen und Ohren bis anhin die Politik verfolgte, konnte leicht selber feststellen, dass ein Kurt Furgler anders politisierte als der Arbeiter-Bundesrat Willi Ritschard, oder ein gestresster Landesvater wie Pierre Aubert mehr Mühe hatte, die Bevölkerung von seiner Politik zu überzeugen, als Persönlichkeiten mit schauspielerischem Talent und wirkungsvollem Augenaufschlag. Und dass sich die Auftritte von Alphatieren wie Couchepin, Calmy-Rey oder Blocher von jenen des Typs gewissenhafter Schaffer wie weiland Rudolf Friedrich oder Arnold Koller unterschieden, blieb auch niemandem verborgen.
Der Blick in die Zukunft
Interessanter als Vatters politologische Schablonisierungkünste ist sein Blick in die Zukunft. Hat das kollegiale Regierungsprinzip überhaupt eine Zukunft? Auch wenn der Bundesrat der Pandemie wegen momentan massive Salven an Kritik einstecken muss, so geniesst er als Behörde noch immer grosses, ja sehr grosses Vertrauen. Und wenn sich einzelne Mitglieder in der Öffentlichkeit bewegen, erfahren sie manche Zeichen der Sympathie. Auffallend ist auch das enorme Schrifttum, das Bundesräten gerade jetzt wieder gewidmet wird. Es umfasst alle Gattungen, von wissenschaftlich recherchierten Biografien (kürzlich erschienen solche über Marcel Pilet-Golaz und Emil Welti), über Propagandaschriften (etwa jene von Markus Somm über Blocher) bis zu Hochglanzbroschüren, aus denen uns zum Beispiel Doris Leuthard entgegenlacht.
Bei aller Wertschätzung ist sich die politische Community indes einig, dass die „Konserve“ aus der Mitte des 19. Jahrhunderts einer Reform bedarf. Verdienstvoll ist, wie Vatter die verschiedenen Tendenzen analysiert, die den Reformbedarf begründen. Sie lassen sich alle unter dem Wort „Zunahme“ subsumieren: die Zahl und Komplexität der Geschäfte, die internationale Verflechtung, die Medialisierung und, etwas vom Wichtigsten, die Polarisierung – alle diese Tendenzen haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten massiv akzentuiert.
Von Alexis Tsipras bis Nigel Farage
Das heisst: Die mit Augenmass politisierende Mitte dünnte sich mehr und mehr aus, während die Polparteien SP und SVP sich zunehmend nach links bzw. rechts bewegten. Dazu schreibt Vatter: „Die Parteipositionen im Bundesrat sind heute in etwa so weit auseinander entfernt wie diejenigen von Alexis Tsipras, dem ehemaligen griechischen Regierungschef der sozialistischen Bewegung Syriza, und Nigel Farage, dem Gründungsmitglied der EU-skeptischen, rechtspopulistischen und wirtschaftsliberalen UKIP aus Grossbritannien.“
Damit stellt sich die Frage: Kann ein Gremium, in dem vier von sieben Personen die meilenweit auseinander liegenden Polparteien repräsentieren, überhaupt noch kollegial funktionieren? Die Art, in der die SVP-Spitze gegenwärtig die Corona-Politik des Bundesrats hintertreibt, lässt jedenfalls keine erhebenden Zukunftsprognosen aufkommen.
Sisyphus und sein rollender Stein
Vatter ist nicht der Typ des Politologen, der den Akteuren auf der öffentlichen Bühne mit wehender Fahne den Weg aus der Verkrustung weisen will. Entsprechend kommen seine Reformvorschläge auf leisen Sohlen daher. Eine „vertiefte Debatte“ regt er in dreierlei Hinsicht an. Erstens sollte das Parlament die Regierungsmitglieder künftig nicht mehr einzeln, sondern en bloc wählen, was die Kollegialität und die Kohärenz der Regierungsarbeit steigern könnte. Zweitens würde die Schaffung eines Präsidialdepartements die Kapazitäten für Planung, Leitung und Koordination departementaler Arbeit erhöhen und überdies sicherstellen, dass die zunehmenden Repräsentationspflichten bewältigt werden könnten. Sinnvoll wäre drittens, zu Beginn jeder Legislatur in einem Konkordanzvertrag ein „Mindestmass an inhaltlichen Eckpunkten“ festzulegen.
Vorschläge zur Reform der Schweizer Exekutive werden seit Jahren diskutiert – alle ereilte dasselbe Schicksal: Der Stein rollte meist schon runter, bevor ihn Sisyphus überhaupt nach ganz nach oben befördert hatte. Was Vatters Anregungen betrifft, so muss man sich fragen, ob kollegiales Regieren noch möglich wäre, wenn eine Figur kompetenzmässig über die andern sechs erhöht würde und in seinem „abgehobenen“ Amt gleich für vier Jahre Platz nähme. Denn das müsste sie wohl, weil es „Ein-Jahr“-Bundespräsidenten nie gelingen wird, mit andern Regierungschefs eine solide Vertrauensbeziehung aufzubauen, wie sie etwa zwischen Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt oder François Mitterand und Helmut Kohl gepflegt wurde. Als Folge der Internationalisierung aller wichtigen politischen Prozesse werden solche Kanäle aber stets unentbehrlicher. Auch wäre die Person, die führungsstark und durchsetzungsfähig, gleichzeitig auch konziliant und unabhängig sein müsste, erst noch zu finden. Um einen„präsidialeren“ Präsidenten zu küren, müssten die Fraktionen jedenfalls ein hohes Mass an Kompromissfähigkeit aufbringen – eine Tugend, die im gegenwärtigen von dogmatischer Borniertheit geprägten Zeitgeist einen schweren Stand hat.
Ein Itinerar, das zu einem Reformziel führen könnte, ist Vatters Werk nicht. Aber allen, die sich mit der Problematik auseinandersetzen müssen oder wollen, bietet es eine breitgefächerte, gründliche Basis. Angenehm für den Leser ist, dass der Autor den üblichen Politologenjargon im Zaum hält; unangenehm dagegen, dass die sprachliche Gender Correctness etwas gar ins Kraut schiesst. Die Wortpaare Bundesrätinnen und Bundesräte, Departementsvorsteherinnen und Departementsvorsteher, Bundespräsidentinnen und Bundespräsidenten folgen sich kumuliert und in so kurzen Abständen, dass man daran ersticken könnte. ____________
Adrian Vatter: Der Bundesrat. NZZ Libro, 400 Seiten, Fr. 34.–.