Es bedarf keiner seherischen Gaben, um den weiteren Niedergang Europas vorherzusagen. Als erstes steht der endgültige Zerfall des Schengenraumes auf der Tagesordnung. Denn die Flüchtlingsströme werden nicht versiegen. Und es hat sich gezeigt, dass die Mitglieder der EU nicht bereit sind, wenigstens einen kleinen Teil der Flüchtlinge unter sich aufzuteilen.
Ende des Euro
Parallel dazu breiten sich Ressentiments aus. Das jüngste Beispiel liefert Polen, das ganz offen gegen die EU Front macht und dabei von Ungarn unterstützt wird. Südeuropa wendet sich gegen Deutschland, und Deutschland repräsentiert die EU wie kein anderes Land. Sowohl in Ost- wie in Südeuropa ist es üblich geworden, nicht nur die deutsche Kanzlerin, sondern inzwischen auch Repräsentanten der Europäischen Union in Naziuniformen darzustellen.
Vor diesem Hintergrund ist es geradezu unwahrscheinlich, dass es den Euro noch lange geben wird. Das System der Transferleistungen ist auf parlamentarische Mehrheiten in den Geberländern angewiesen. Dafür schwindet die politische und mentale Bereitschaft von Tag zu Tag.
Wiederholung des Bekannten
Dieser Niedergang der europäischen Idee, des europäischen Ethos findet statt, nachdem in unendlich vielen Gedenkveranstaltungen an die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts erinnert wurde. Der gemeinsame Nenner aller dieser Veranstaltungen war das Bekenntnis, dass sich derartige Katastrophen nie wieder ereignen dürfen. Aber gibt es noch Kräfte, die sie verhindern können?
Trotz aller gegenteiligen Behauptungen wiederholt sich Geschichte. Was sich ändert, sind bloss die Drapierungen und Erscheinungsformen. Niemand geht mehr mit einer Pickelhaube auf ein Schlachtfeld. Überhaupt hat sich die Art der Kriegsführung in den letzten Jahren derartig gewandelt, dass man oft gar nicht genau sagen kann, ob jetzt gerade ein Krieg stattfindet oder nicht. Aber gemordet und gestorben wird in jedem Falle. Und die Produktion von Waffen und ihr weltweiter Handel sind lukrativer als die meisten anderen Geschäfte.
Triumph der Gewalt
Was lässt sich wirklich aus der Geschichte lernen? Ganz offensichtlich lernen wir nicht, ganz neue Verhaltensweisen und Konfliktlösungen zu erarbeiten, die den Rückfall in Gewalt obsolet machen. Ganz im Gegenteil ist die Gewalt immer noch die erste und plausibelste Option. Es erfordert einen hohen intellektuellen und argumentativen Aufwand, den Gewaltbefürwortern entgegenzutreten. Wo wir auch hinschauen, in die USA, nach Osteuropa, Afrika oder Asien: Überall bestimmen diejenigen die Tagesordnung, die sich der Gewalt bedienen.
Aus der Geschichte kann man eigentlich nur lernen, dass alles möglich ist, auch das, was wir für „undenkbar“ halten. Es scheint eine Drift der Geschichte zu geben, die sich gegen die besten Absichten durchsetzt. Dagegen bieten sich nur ganz wenige Gelegenheiten, bei denen es gelingt, destruktiven Tendenzen entgegenzutreten.
Atempause der Geschichte
Eine solche Atempause der Geschichte gab es nach dem Zweiten Weltkrieg, als europäische Politiker alles daran setzten, weitere innereuropäische Kriege zu verhindern. Der Preis, der in der Vergangenheit gezahlt worden war, konnte nun als Kapital in die Zukunft eingebracht werden. Darüber wurde ganz offensichtlich nach und nach die Drohung vergessen, die in der Geschichte liegt. Und nach 1989 glaubte der Westen, dass sich einige der letzten Konfliktpotenziale ein für alle Mal aufgelöst hätten. Prompt brauten sich – von den meisten unbemerkt – die ersten neuen Gewitterwolken zusammen.
Das „Ende der Geschichte“, das der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama triumphierend ausgerufen hatte, erweist sich jetzt als der Beginn einer neuen Gewaltgeschichte. Das Grauen der letzten 100 Jahre lehrt uns eigentlich nur, was jetzt nach und nach auf uns zukommt. Technisch haben die Menschen in den letzten Jahrzehnten unglaublich viel gelernt, aber diese Fortschritte finden keinerlei Entsprechung im Umgang mit Konflikten.