Die Vokabel „eigentlich“ kommt locker von der Zunge. Schnell ist sie formuliert und meist wenig reflektiert. „Eigentlich geht es mir gut“, erwidert man nicht selten auf die Anstandsfrage nach dem Wohlbefinden. Geht es mir nun gut oder nicht gut? "Eigentlich" ist die Antwort verständlich; man will sein Vis-à-Vis nicht neidisch machen. Es darf mir darum nicht allzu gut gehen.
„Eigentlich“ grenzt ab
„Eigentlich bin ich Lehrer.“ So habe ich in jungen Jahren ab und zu auf die Frage nach meinem beruflichen Wirken geantwortet. Zurück blieb ein schales Gefühl. Irgendwie hat mich das Relativieren beschämt. Warum denn „eigentlich“? Bin ich nun Lehrer, oder bin ich es nicht? Kann ich nicht zu meinem Beruf stehen? Und was ist überhaupt ein „Eigentlich“-Lehrer? Einer, der auf Distanz geht, wenn es kritisch wird? Einer, der feige abtaucht und wie Petrus auf dem Weg zum Ölberg sein Wirken und seine Identität verleugnet?
Nie habe ich Berufsleute sagen hören: „Eigentlich bin ich Ingenieur.“ Und was wäre, wenn eine Medizinerin sagte: „Eigentlich bin ich Ärztin.“ Es käme uns komisch vor; wir wären irritiert. Die Aussage hat etwas Abgrenzendes in sich, verbunden mit dem unausgesprochenen Nachsatz: „Ich bin mir eben nicht ganz sicher.“ Und was denkt sich, wer auf ein „Eigentlich bin ich Journalist“ stösst? Gerne wäre er wohl Schriftsteller geworden, aber es reichte halt nicht, fantasiert man weiter.
Identifikation kennt kein „eigentlich“
Worte schaffen Wirklichkeit, heisst es. Genau darum habe ich mich später gegen dieses Wörtlein gesperrt. Wie so ganz anders tönt die Aussage: „Ich bin Lehrer!“ Ich wollte kein „Eigentlich“-Lehrer sein. „Eigentlich“-Haltungen dispensieren von der Verantwortung, denn man lässt offen, ob man nicht lieber eine andere Identität hätte. Der „Ich-bin-Lehrer“ dagegen weiss um die Bedeutung des Pädagogen für Kinder und Jugendliche. Er ist sich bewusst, was eine achtsame Lehrerin bewirken kann und wie wichtig ein profilierter Lehrer für viele Kinder ist, vor allem für solche aus sozial engen Verhältnissen. Internationale Studien zeigen es. Gutes Lernen ist immer auch ein Dialog, ein „Meeting of Minds“, wie es der amerikanische Philosoph John Dewey, ein „Vordenker“ der Pädagogik, ausdrückt. Unterricht bedeutet eine Interaktion zwischen Menschen. Es hängt nicht vom Lehrer allein ab, aber es kommt auf ihn an.
Ich wollte darum ein „uneigentlicher“ Lehrer sein, einer mit Leib und Leidenschaft – mit einem klaren Berufsverständnis. Solche Lehrer kennen kein "eigentlich". Man spürt ihre Hingabe; sie identifizieren sich mit der Aufgabe. Und sie wollen bei den jungen Menschen etwas bewirken. Wie meine pädagogischen Vorbilder aus der eigenen Schulzeit.
Wider alles „Eigentliche“ in der Schule
„Eigentlich kannst du mit der Leistung zufrieden sein.“ Der Satz blieb mir im Gedächtnis haften. Bis heute. Was meinte meine Zweitklass-Lehrerin mit ihrer Aussage? Genügte die Arbeit nun? Oder war da nicht noch etwas, das unterschwellig mitschwang? Ein Aber. Warum wollte es die Lehrerin nicht offenlegen? Dabei hatte ich mir für den kleinen Text über die eindrückliche SJW-Geschichte "Nur der Ruedi" so grosse Mühe gegeben und lange daran gefeilt.
Ein Feedback müsste wohlwollend im Ton, aber unerbittlich in der Sache und sprachlich präzis formuliert sein. Nur so wirkt es. Schwammige Begriffe wie „Bravo, ich könnte es wohl nicht besser!“ oder „Du hast das eigentlich super gemacht!“ überschreiten die Schwelle des ritualisierten Nettseins kaum. Klare Differenzierungssignale fehlen. Der Lerneffekt bleibt diffus. Dabei gehören gezielte Rückkoppelungen zu den effektivsten Instrumenten. Man weiss es aus der Forschung. Feedbacks steigern die Lernfortschritte, wenn sie an Inhalte gebunden sind und die Diskrepanz zwischen Ist und Soll kurz und konkret benennen.
Das „Eigentlich“ muss verbannt werden
„Eigentlich kannst du mit der Arbeit zufrieden sein.“ Das ist als Feedback zu wenig. Es wirkt nicht. Eigentlich müsste das Wörtlein darum aus der Schule verbannt sein. Nein, nicht eigentlich: Es gehört aus der pädagogischen Provinz vertrieben. Ganz generell. Und wohl nicht nur dort.