Ich habe in diesen Spalten gefordert, dass der Bundesrat in Bezug auf das Rahmenabkommen mit der EU die Fast-Forward-Taste drückt. Daraus wird wohl nichts. Welche Szenarien sind denkbar in Bezug auf die Schweizer Europapolitik?
Seit Jahren hält der Bundesrat in Bezug auf die Europapolitik den Ball flach. Er entscheidet wenig, führt kaum und vermeidet das Thema auch in der Innenpolitik. Das hat verheerende Konsequenzen, denn das Thema trifft die Schweizer Öffentlichkeit immer wieder unvorbereitet. Der EU-Chefunterhändler verglich die Situation kürzlich mit dem Theaterstück „Warten auf Godot“.
In der Tat: Die Schweiz spielt ein absurdes Theaterstück. Es liegt ein ausverhandelter Entwurf vor, der die Schweizer Europapolitik auf eine neue Basis stellen würde. Stand heute würde dieses Abkommen keine Mehrheit finden, weshalb der Bundesrat es vorläufig nicht unterzeichnet. Er hat die Europapolitik praktisch an die Sozialpartner delegiert und erwartet von diesen Vorschläge in Bezug auf das weitere Vorgehen. Ausserdem wollte er vor den Wahlen nichts entscheiden und nachher, bis zur Abstimmung über die Kündigungsinitiative, möglichst auch nicht. Würde diese Initiative angenommen, dann hätte sich das Thema erledigt; der Alleingang wäre Tatsache.
Wie sind wir in diesem Engpass gelandet? Wie kommt es, dass ein an sich für uns sehr vorteilhaftes Abkommen in der Endlosschlaufe landet? Und was wäre der Ausweg?
Getrübte Erfolgsgeschichte
Es war wohl im Jahr 2008, als ich das erste Mal vom Rahmenabkommen las und zwar auf einem Wunschzettel der EU an die Schweiz. Man erinnert sich: Die bilateralen Abkommen waren soeben in Kraft getreten und erlauben seither unserem Land einen sektoriellen Zugang zum EU-Binnenmarkt. Diese Abkommen sind eine Erfolgsgeschichte. Gemäss einer neueren Studie profitiert kein Land mehr vom EU-Binnenmarkt als die Schweiz – auch wenn diese nicht Mitglied ist. Zwei Probleme trüben diese Erfolgsgeschichte:
- Zu diesen Abkommen gehört die Personenfreizügigkeit. Ein Zugang zum Binnenmarkt ohne diesen Pfeiler ist nicht zu haben. Sie ist aber innenpolitisch hoch umstritten und ein nächster Versuch, die Personenfreizügigkeit zu Fall zu bringen, kommt in Form der Kündigungsinitiative im Mai zur Abstimmung. Wird diese angenommen, fallen via Guillotineklausel auch die meisten anderen Marktzugangsabkommen dahin.
- Bei diesen Abkommen handelt es sich um starre Verträge, die, wenn sich etwas verändert, mühsam auditiert werden müssen. Dagegen kann sich die Schweiz sperren und das tut sie hin und wieder. Und dann gelten nicht überall im Binnenmarkt die gleichen Regeln. Das wiederum will die EU nicht.
Den Wunschzettel überbracht hat damals der EU-Botschafter Michael Reiterer, ein österreichischer Diplomat. Er war sehr gut vertraut mit den lokalen Gegebenheiten und betrieb eine sehr öffentlichkeitswirksame Diplomatie. Er sass auf Podien, gab Interviews und war in den Medien sehr präsent.
Was er sagte, war aus EU-Sicht völlig logisch. Das Recht müsse im europäischen Binnenmarkt einheitlich sein, sagte Reiterer. Brüssel verlangte Viererlei: dass bei neuen Abkommen mit der Schweiz das EU-Recht übernommen beziehungsweise bei bestehenden aufdatiert werden muss; dass die Anwendung des Rechts in der EU und der Schweiz die gleiche ist; dass die Entscheidungen des EU-Gerichtshofes berücksichtigt werden; dass ein beidseits befriedigendes Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten gefunden wird.
Damit sind wir genau bei den Fragen, die uns bis heute plagen. Seit mehr als zehn Jahren liegen sie auf dem Tisch und harren einer Lösung. Reiterer biss erst einmal auf Granit. Zudem verstand er sich nicht sehr gut mit der damaligen Bundesrätin Calmy Rey (SP), die für derartige Fragen wenig Musikgehör hatte. Verhandlungen kamen nicht zustande, auch eine Diskussion in der Öffentlichkeit wurde vermieden. Die bilateralen Verträge funktionieren ja. Wozu etwas ändern? Diejenigen, die gegen die Vorschläge Brüssels waren, versäumten es ausserdem, einen Plan B vorzuschlagen für den Fall, dass die bilateralen Verträge einmal scheitern würden, sei es durch eine Volksabstimmung, die deren Kündigung nötig macht, oder weil die Verhandlungen mit Brüssel scheitern. Dies ist der Stand bis heute.
Reihenweise Versäumnisse
Nach einem Wechsel an der Spitze des Eidgenössischen Departementes des Äusseren (EDA), bewegte sich etwas. Der neue Departementsvorsteher, Bundesrat Didier Burkhalter (FDP), brachte den Bundesrat dazu, ein Verhandlungsmandat zu verabschieden. Die Verhandlungen begannen 2014, verliefen aber knorzig. Ab und zu drang etwas an die Öffentlichkeit, aber nicht allzu oft.
Man hörte zum Beispiel, die EU habe den EFTA/EWR-Gerichtshof als verbindliche Streitschlichtung vorgeschlagen, man habe sich dann aber auf Vorschlag der Schweiz auf die Schiedsgerichtslösung geeinigt, bei der der EU-Gerichtshof eine grosse Rolle spielt. Offenbar hatten die Schweizer Verhandlungsführer Angst vor einer verbindlichen Streitschlichtung und waren bereit, ein kompliziertes Verfahren zu akzeptieren, wenn es eine Hintertür offen lässt, in der irrigen Annahme, dies liesse sich dem Stimmbürger besser verkaufen. Gleichzeitig versäumte man es, die Europapolitik breit in der Öffentlichkeit zu diskutieren und die Sozialpartner einzubeziehen.
Richtig ist, dass Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden; richtig ist auch, dass die Verhandler ihre Trümpfe nicht aus der Hand geben sollen. Aber ebenso sollte man seine innenpolitische Front geschlossen halten. Die Regierung und die Diplomatie können nicht im luftleeren Raum agieren.
Zusätzlich hat man es auch versäumt, in Brüssel ein richtiges Lobbying aufzubauen. Während im Auftrag anderer Kleinstaaten Heerscharen von Lobbyisten vor Ort sind, gibt es einen einzigen Schweizer Lobbyisten in Brüssel. Dieser ist über 70 und schon seit Jahrzehnten dort stationiert. Nach dem Muster von Österreich sollten alle massgebenden Schweizer Organisationen von Wirtschaft, Politik und Gewerkschaften in Brüssel ihre Horchposten haben, die für die Schweiz um Verständnis werben und dann die Sicht Brüssels in der Schweiz einspielen. Das geschieht aber nicht. An diesen Versäumnissen leiden wir heute.
Streitfall flankierende Massnahmen
Ein Beispiel: Umstritten beim jetzt vorliegenden Rahmenabkommen sind insbesondere die flankierenden Massnahmen. Diese wurden bei der Einführung der Personenfreizügigkeit im Rahmen der bilateralen Verträge autonom eingeführt, damit Schweizer Löhne nicht durch ausländische Anbieter unterboten werden können. So muss die Tätigkeit solcher Anbieter je durch eine tripartite Kommission aus Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Staat überwacht werden. Für ausländische Firmen, die ihre Dienstleistungen in der Schweiz anbieten wollen, gilt eine Voranmeldefrist von acht Tagen und sie müssen eine Kaution hinterlegen. Durch die Voranmeldepflicht kann dann die tripartite Kommission zum Beispiel auf Baustellen überprüfen, ob hiesige Löhne gezahlt und die hiesigen Gesetze eingehalten werden. So weit, so vernünftig.
Ausländischen Anbietern, die ein Auge auf dem Schweizer Markt tätig werden wollen, sind diese Massnahmen seit jeher ein Dorn im Auge. Und sie haben dagegen in Brüssel lobbyiert. Mit Erfolg, denn die EU-Kommission versucht seit vielen Jahren die Schweiz dazu zu bringen, diese flankierenden Massnahmen zu lockern. Ohne Erfolg; das Geschäft steckt seit einigen Jahren im gemischten Ausschuss fest und dort kann nur im Konsens entschieden werden. Nun hat praktisch jedes EU-Land bürokratische Stolperdrähte gespannt, die den eigenen Arbeitsmarkt schützen. Sei es, dass man ohne die Landessprache nicht weit kommt, sei es, dass Normen vorgeschrieben werden, die der ausländische Anbieter nicht erfüllen kann oder will. Lohnschutz gibt es auch bei den EU-Mitgliedern untereinander.
Wie der Schweizerische Gewerkschaftsbund herausgefunden hat und in einer Studie jüngst berichtet, sind es vor allem deutsche Firmen aus Baden-Württemberg, die am Schweizer System Anstoss nehmen. Und diese haben ihr Lobbying in Brüssel verstärkt, so dass ihre Position 1:1 ins Verhandlungsmandat der EU bezüglich Rahmenabkommen eingeflossen ist. Bereits in dieser Phase hätte ein Schweizer Lobbying in Brüssel kontern müssen. Und dieses Lobbying hätte vor Ort sein und von allen Anspruchsgruppen wie Gewerkschaften und Arbeitgebern getragen sein müssen.
Aber als die Verhandlungen begannen, waren unsere Diplomaten auf sich allein gestellt und mussten sich mit der Position der EU auseinandersetzen, die in Wahrheit die Position der Deutschen ist. Wenn man sich das vor Augen hält, ist es bemerkenswert, was den Vertretern der Schweiz gelungen ist. Das Abkommen garantiert nach wie vor eine viertägige Voranmeldefrist. Kautionen können weiterhin erhoben werden, aber nur von säumigen Firmen. Gleichzeitig werden diese Massnahmen dem Rahmenabkommen unterstellt.
Sture Gewerkschaften
Nun jedoch haben die Gewerkschaften auf stur geschaltet. Sie verlangen, dass die flankierenden Massnahmen vom Rahmenabkommen ausgenommen werden und so bleiben, wie sie sind. Sie fürchten, dass diese Massnahmen zu schwach sind und durch einen Gang vor das Schiedsgericht komplett ausgehebelt werden könnten.
Was ist davon zu halten? Gar nichts! Würde heute ein Unternehmer aus Baden-Württemberg in der Schweiz klagen, könnte das Bundesgericht durchaus entscheiden, dass die heute gültige Regelung den bilateralen Verträgen widerspricht. Und da ein internationaler Vertrag Landesrecht bricht, würden die ganzen flankierenden Massnahmen baden gehen. Es hat einfach noch niemand geklagt. Mit der im Rahmenabkommen vorgesehenen Lösung sind die Massnahmen wenigstens teilweise garantiert und festgeschrieben. So ist heute die Situation beim Lohnschutz.
Allerdings ist hier eine Situation entstanden, bei der etwas im Vertrag steht, das in dieser Form zwar wohl für die Schweiz in Ordnung wäre, Stand heute im Parlament und im Volk voraussichtlich aber nicht gutgeheissen würde. Damit solche Situationen in Zukunft nicht mehr auftreten, müsste wirklich das Schweizer Lobbying verstärkt werden, und zwar so, dass es nach beiden Seiten hin funktioniert: in Brüssel Verständnis für die Schweiz schaffen und in der Schweiz das Verständnis für die EU fördern, für deren Mechanismen und deren Funktionieren.
Status quo heisst Niedergang
Bei ihren Antworten auf die Hinhaltetaktik der Schweiz hat die EU zigmal betont, dass der Status quo langfristig keine Option und deshalb nicht mehr im Angebot ist. Aus den Gründen, die Botschafter Reiterer 2008 erläutert hat. Es wurde zwar nicht damit gedroht, die bilateralen Verträge zu kündigen – das könnte die EU jederzeit – aber die EU drohte mit Nadelstichen. Sie verkündete zum Beispiel, dass sie bestehende Abkommen nicht mehr aufdatieren würde, ausser es sei in ihrem Interesse, und keine neuen sektorialen Abkommen mehr abschliessen würde.
Das ist im Prinzip die Situation, wie sie heute ist. Ohne ein Rahmenabkommen werden wir den Zutritt zum Binnenmarkt, von dem wir wie kein anderes Land profitieren, sukzessive verlieren, weil die Abkommen nicht mehr erneuert werden und die Rechtslage auseinanderdriftet. So geschehen schon in der Hochschulpolitik, wo die Zusammenarbeit zunehmend schwierig wird.
Die Schweiz reagiert jeweils mit irgendwelchen Ad-hoc-Vereinbarungen von Land zu Land oder mit Rückfalllösungen wie bei der Aberkennung der Börsenäquivalenz. Diese Pflästerlipolitik ist keinesfalls ein Plan B. Es handelt sich nicht um vorausschauende, gestaltende Politik, sondern um reaktive Murks-Strategien, die nicht mehr funktionieren werden, wenn die Unterschiede in den rechtlichen Rahmenbedingungen zu gross werden.
Ende der Vorzugsbehandlung
Warum dachte man und denkt wohl in vielen Kreisen noch heute, dass man damit durchkomme? Das hängt erstens mit der falschen Annahme zusammen, dass die Schweiz in Europa immer noch eine Spezial-Vorzugsbehandlung geniesst wie lange in der Nachkriegszeit. Einerseits zählt die EU heute 28 Mitglieder, die sich alle auf eine Position gegenüber der Schweiz einigen müssen, anderseits gibt es die Bonner Bundesrepublik nicht mehr, die ein mächtiger Fürsprecher der Schweiz war. Deren letzter Kanzler, Helmut Kohl, setzte sich 1993 vehement gegen eine Bestrafung der Schweiz nach dem EWR-Nein ein. «Das ist für mich ein völlig inakzeptabler Vorgang», wetterte er nach einem Besuch in Bern, «ich werde mich mit meiner ganzen Autorität dafür einsetzen, dass bei den jetzt laufenden Verhandlungen notwendiges und vernünftiges Entgegenkommen möglich wird.» Die Schweiz ist immer noch angesehen in Europa, aber die Zeit des Rosinenpickens ist vorbei.
Oder dann hat zweitens vielleicht auch die seit den fünfziger Jahren weit verbreitete Auffassung eine Rolle gespielt, die EU werde als Idee und also Organisation irgendwann scheitern, was der Schweiz aus dem Dilemma hülfe. Diese Annahme geht von einer völlig falschen Vorstellung aus. Die EU-Länder streiten sich zwar untereinander, aber gegenüber Drittländern verständigen sie sich auf eine Position, und es gelingt nicht, sie auseinanderzudividieren. Das muss Grossbritannien beim Brexit gerade auf die harte Tour lernen.
Und jetzt?
Die Verhandlungen verliefen also harzig. Bewegung kam beim nächsten personellen Wechsel im EDA in die Sache. Schon bei seiner Wahl in den Bundesrat hat Aussenminister Ignazio Cassis betont, er würde beim Rahmenabkommen die Reset-Taste drücken, das heisst, vorwärts machen. In der Tat legte er dann innerhalb eines Jahres ein Verhandlungsergebnis vor. Eine Würdigung habe ich schon hier vorgenommen. Und ich habe auch vorgeschlagen, eine innenpolitische Front dafür aufzubauen, damit das Abkommen eine Mehrheit findet, also die Fast-Forward-Taste zu drücken.
Das ist bis jetzt nicht geschehen, im Gegenteil. Während Bundespräsident Maurer – seine Partei würde für eine Zurücknahme der Personenfreizügigkeit das ganze Paket der bilateralen Verträge opfern – das Abkommen für gescheitert erklärte, konterte der Europa-freundlichere FDP-Aussenminister Cassis, er hoffe auf einen Neustart der Gespräche mit der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. O-Ton Cassis: „Der Bundesrat denkt, dass es, sobald wir auf der innenpolitischen Schiene genügende Klarheit haben und sobald auf der aussenpolitischen Schiene die EU-Kommission am 1. November ins Amt getreten ist und die Brexit-Geschichte vielleicht irgendwann auch mal beendet wird, möglich sein wird, einen Schritt vorwärtszumachen.“
Kommt mehr Bewegung?
Was Cassis nicht sagte: Der Bundesrat wollte zuerst auch die Wahlen vorbeigehen lassen. Und jetzt, wo sie vorbei sind, will er zur Sicherheit auch noch die Abstimmung über die Kündigungsinitiative vorbeigehen lassen. Diese Initiative der nationalkonservativen und europafeindlichen Schweizerischen Volkspartei (SVP) will den Bundesrat dazu zwingen, das Personenfreizügigkeitsabkommen zu kündigen – und würde wegen der Guillotineklausel eine ganze Serie von Verträgen in den Abgrund ziehen. Diese Abstimmung findet im Mai statt und wir täten gut daran, in der Schweiz bis zu diesem Zeitpunkt eine innenpolitische Verständigung bezüglich Europapolitik zu finden. Wie könnte diese aussehen?
Entgegen meiner Vermutung macht die EU bisher keinen Druck auf die Schweiz. Und die Schweiz hofft auf Flexibilität und Nachverhandlungen. Die neue EU-Kommission wird ihr Amt irgendwann angetreten haben. Und ist der Brexit erst einmal vom Tisch, dürfte die EU mehr Kompromissbereitschaft gegenüber der Schweiz zeigen. – So argumentieren die Befürworter des institutionellen Abkommens.
Die neue Kommissionspräsidentin von der Leyen hat deren Hoffnung bei ihrer ersten Medienkonferenz genährt, als sie sagte, auf dem bisherigen Entwurf des institutionellen Abkommens lasse sich „aufbauen“. Das klingt in Schweizer Ohren etwas besser als die Position ihres Vorgängers Jean-Claude Juncker, der die Verhandlungen als „abgeschlossen“ erklärt hatte.
Inwiefern sich mit der EU ein Kompromiss finden lasse, „werden wir in den nächsten Wochen und Monaten sehen“, sagte Aussenminister Cassis. Bedingung dafür sei „auf der innenpolitischen Schiene genügende Klarheit“. Was meint er damit?
Drei Knackpunkte
In den Verhandlungen ist es gelungen, den Geltungsbereich auf fünf Verträge zu begrenzen; einer davon ist zugegebenermassen sehr wichtig: die Personenfreizügigkeit. Dazu wurde für die Rechtsübernahme ein Mechanismus gefunden, der den Schweizer Politbetrieb und die direkte Demokratie respektiert. Bei der Streitschlichtung wurde ein System vorgeschlagen, das verhindert, dass die EU unangemessene Ausgleichsmassnahmen ergreift und uns diskriminiert.
Es sind deshalb drei Problemkreise übriggeblieben, die umstritten sind:
- Lohnschutz
- Unionsbürgerrichtlinie
- Staatliche Beihilfen
Damit steht oder fällt das Abkommen. Drei Arbeitsgruppen der Sozialpartner suchen nun im Auftrag des Bundesrats seit Mitte Juli Kompromissansätze für diese Punkte im Rahmenabkommen.
Stolperstein Lohnschutz
Hier sind zwei Ansätze denkbar – oder eine Mischung davon:
- Es gelingt, der EU in Nachverhandlungen Konzessionen abzutrotzen, die das Abkommen innenpolitisch mehrheitsfähig machen.
- Man baut den Schweizer Lohnschutz auf nichtdiskriminierende und damit abkommensverträgliche Art um.
Man kann und soll versuchen, der EU solche Konzessionen abzutrotzen. Ob das gelingt, ist schwer vorherzusehen. Im Moment stehen die Zeichen eher auf Entspannung, eine Delegation von Parlamentariern beider Seiten trifft sich. Dabei soll empfohlen werden, dass die Schweiz die Kohäsionsmilliarde freigibt und die EU-Kommission den Entscheid zur Börsenäquivalenz überdenkt.
Die Kohäsionsmilliarde ist eine Unterstützungszahlung für ärmere EU-Mitglieder, eine Art Eintrittspreis in den EU-Binnenmarkt. Da die Schweiz das Land ist, das am meisten vom gemeinsamen Markt profitiert, ist die Kohäsionsmilliarde gerechtfertigt. Gerechtfertigt wäre auch die unbefristete Gewährung der Börsenäquivalenz an die Schweiz, obwohl sich deren Fehlen nicht negativ ausgewirkt hat. Der Entzug der Börsenäquivalenz war eindeutig ein Druckversuch, der – ironischerweise – mit dem Rahmenabkommen nicht mehr möglich wäre. Gleichzeitig senden auch einige deutsche Politiker, vor allem von grüner Seite, deutliche Entspannungssignale aus, indem sie Verständnis für die Schweizer Position in Sachen Lohnschutz zeigen.
In der entsprechenden Arbeitsgruppe sind die Gespräche innerhalb der Schweiz aber blockiert.
Die Gewerkschaften haben den Schlüssel in der Hand und schalten auf stur, denn sie lehnen eine Mitsprache des Europäischen Gerichtshofs strikt ab. Spielen sie auf Zeit, bis die Abstimmung über die Kündigungsinitiative der SVP im kommenden Mai vorbei ist? Oder warten sie, dass zuerst Vorschläge zur Unionsbürgerrichtlinie vorliegen, damit die EU dafür beim Lohnschutz einlenke?
Mehrere Varianten durchdenken
Allerdings sollte diese Arbeitsgruppe dringend in eine andere Richtung denken. Lohnschutz gibt es auch in den EU-Ländern. Und hier sollte dringend untersucht werden, welche Druckmittel die EU-Länder zur Abwehr ausländischer Leistungserbringer einsetzen. Solche Massnahmen könnte die Schweiz dann autonom einführen; die EU könnte der Schweiz schwerlich verwehren, was sie bei ihren Mitgliedern toleriert. Oder man denkt darüber nach, den Lohnschutz mit Mindestlöhnen und Normalarbeitsverträgen zu sichern. Das ist nicht diskriminierend und mit EU-Recht vereinbar. Der Marktzugang hat einen Preis. Wir müssen ihn herausfinden und bezahlen.
Bei den staatlichen Beihilfen scheint eine Einigung am ehesten möglich, obwohl die Arbeitsgruppe noch keinen innenpolitischen Kompromiss gefunden hat. Schwieriger ist die Ausgangslage bei der Unionsbürgerrichtlinie. Die dafür eingesetzte Arbeitsgruppe analysiert, inwiefern Schweizer Gesetze und Praxis davon abweichen. Das Stichwort ist hier „Einwanderung ins Sozialsystem“, das heisst mögliche Ansprüche von EU-Bürgern auf Sozialleistungen und Aufenthalt, wenn sie arbeitslos werden. Im günstigsten Fall erweist sich der Unterschied als begrenzt. Dann könnte die Schweiz den Inhalt der Richtlinie einseitig umsetzen, ohne sie formell zu übernehmen. Ob die EU damit zufrieden wäre, ist aber nicht sicher.
Kein Plan B
Wie oben gezeigt, ist der Status quo keine Option, weil die EU ihn nicht mehr akzeptiert. Es gibt dann nur die Möglichkeit eines EU- oder EWR-Beitritts (Stand heute zum Scheitern verurteilt) oder eines Alleingangs. Damit würden wir den Zugang zum EU-Binnenmarkt verlieren – mit dem zugehörigen Wohlstandverlust, hätten dann aber wieder die Möglichkeit, die Zuwanderung autonom zu steuern.
Ob wir diese Möglichkeit klug nutzen würden oder ob wieder diejenigen Branchen Kontingente erhalten würden, die am lautesten schreien und gleichzeitig – wie Gastgewerbe und Landwirtschaft – eine tiefe Produktivität aufweisen, würde in diesem Fall die Zukunft zeigen. Ich bin skeptisch, denn ich kann mich an die Zeit vor der Personenfreizügigkeit erinnern. Gerade die Kreise, die gegen die Personenfreizügigkeit sind, würden dann auf Kontingente pochen.
Damit ist klar, dass das, was heute als Plan B verkauft wird, in Wirklichkeit nur Pflästerlipolitik ist. Sie funktioniert solange einigermassen, wie die regulatorische Lücke nicht allzu weit auseinanderklafft.
Die Medizinaltechnikbranche befürchtet ab 2020 Hürden bei der Zulassung. Sie versucht, Geld lockerzumachen mit dem Argument, die Schweiz müsse ihre Gesundheitsversorgung sicherstellen.
31 Forscher an Schweizer Hochschulen haben Gelder des European Research Council gewonnen. Tempi passati, wenn die EU ein Schweizer Mitmachen beim nächsten Programm ab 2021 an politische Bedingungen knüpft. Liegt die Lösung in einem Forschungsabkommen mit dem Brexitkandidaten Grossbritannien? Oder im Ausbau des bilateralen Vertragswerkes durch den Nationalfonds? Das kann kaum ein Ersatz sein für das EU-Programm Horizon, sondern höchstens ein Pflästerli oder idealerweise eine Ergänzung.
Der Plan B ist also in Wahrheit ein Plan M, ein „Plan Murks“.
Viertgrösster Handelspartner der EU
Man könnte hierzu noch weitere Beispiele bringen. Mit dem Plan M dürfte sich der Schaden vorerst begrenzen lassen. Der Bürger spürt die Dringlichkeit einer Verständigung nicht, obwohl sie gegeben ist, und der Bundesrat schenkt der Öffentlichkeit angesichts der jahrzehntelangen Propaganda von rechtsbürgerlichen Kreisen nicht reinen Wein ein. Ewig wird aber ein Durchmogeln nicht mehr möglich sein.
Natürlich gibt es die Hoffnung, dass sich die EU angesichts ihrer Probleme mit ihren Handelspartnern 1, 2 und 3 – USA, China und Grossbritannien – nicht auch noch mit Handelspartner 4 – der Schweiz – zerstreiten will.
Hoffen wir also, dass die Entspannungssignale nicht trügen, eine Lösung für die Kohäsionsmilliarde und die Börsenäquivalenz gefunden wird, die drei Arbeitsgruppen Lösungen aufwarten und die EU dann Flexibilität zeigt.
Denn das Warten auf Godot kann nicht ewig weitergehen. Nach der Abstimmung über die Kündigungsinitiative muss eine Lösung her für das Rahmenabkommen. Und dann müssen die konstruktiven Kräfte in diesem Land mit vereinten Kräften dafür kämpfen.