Im Alltag verliert das Sie allmählich an Terrain. Fitnesscenters, Ikea-Läden, Apple-Shops und Szenebeizen haben das angelsächsische oder skandinavische Du längst eingeführt. In jugendlichen Milieus ist das Sie genauso verschwunden wie in zahlreichen Berufsgruppen. Auf dem Bau und in der Redaktion ist man per Du. Zahlreiche Unternehmen haben es über alle Hierarchiestufen hinweg offiziell zur Regel gemacht. Noch bestehen Unterschiede zwischen der Schweiz und den im Umgang förmlicheren Nachbarn Deutschland und Österreich, doch die englisch kultivierte Globalisierung zeitigt auch da ihre Wirkungen.
Der Verzicht auf die Sie-Form liegt auf der Linie der sprachlichen Vereinfachungen. Nach dem Genitiv ist auch der Akkusativ zum bedrohten Casus geworden. Konjunktiv sowie sämtliche Zeitformen ausser Präsens und Perfekt sind kaum mehr in Gebrauch. Bei genereller Anrede per Du oder Ihr verschwinden mit der sozialen Distinktion auch sprachliche Hürden.
Dadurch, dass die Höflichkeitsform seltener wird, fällt ihre eigenartige sprachliche Struktur erst recht auf. Mit der Konjugation in erster, zweiter und dritter Person verfügt die Sprache über eine geniale Differenzierung der kommunikativen Beziehungen: Selbstbezug in der ersten, dialogischer Bezug in der zweiten und distanzierter Bezug in der dritten Person. Die Höflichkeitsform ermöglicht eine Unterscheidung innerhalb des dialogischen Bezugs, gehört also eigentlich zur zweiten Person. Sie benützt aber die grammatische Form der dritten Person.
Die sprachlogisch gesehen etwas irritierende Form der Sie-Anrede wurzelt in einem höfischen Verhaltensmuster. Schon das Wort «Höflichkeit» verweist auf diese Herkunft. In der aristokratischen Gesellschaft waren die Rangunterschiede zwischen sozialen Stufen wahrhaft essentiell, will sagen, die «Höheren» waren im eigentlichen Sinne andersartige Wesen. Undenkbar, sich ihnen in einer egalitären Dialogbeziehung zu nähern! Allein möglich war eine die Distanz betonende Anrede über den Umweg der dritten Person, wobei der Abstand zusätzlich noch mit einem elaborierten Code von Titeln ausgedrückt wurde.
Die höfischen Titulierungen sind mittlerweile Geschichte, doch die aristokratische Umwegkommunikation über die dritte Person ist uns in der Höflichkeitsform erhalten geblieben. Irgendwann wird auch sie bei den für Gebildete gerade noch verständlichen sprachgeschichtlichen Residuen abgelegt sein.