Die national-konservative Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) werde die Wahlen gewinnen. Aber hoffentlich nicht so klar, dass sie die Regierung bilden könne, vor allem nicht alleine. Das hätte für Polen sehr negative Folgen. Dies meint Kazimierz Kucharski, ein 88-jähriger Rentner, der in seinem bewegten Leben schon viele Krisen und Umbrüche erlebt hat. Seine Meinung teilen viele Polinnen und Polen aus dem liberalen, liberal-konservativen und linken Lager.
Prognostizierter Umschwung
Die PiS hat im Mai überraschend mit dem jungen, moderat auftretenden Andrzej Duda die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Seither nimmt die PiS in allen Umfragen deutlich die Spitzenposition ein. Die Befragungen geben dem Wahlbündnis ZP (Vereinigte Rechte), in dem neben der PiS noch zwei kleine Parteien vertreten sind, einen Wähleranteil von 32 bis 36 Prozent. Damit liegt die ZP 10 bis 15 Prozent vor der liberal-konservativen PO (Bürgerverständigung), die seit acht Jahren die Regierung dominiert und die letzten Wahlen noch mit 39 Prozent klar für sich entscheiden konnte.
Dass die PiS so deutlich in Front liegt, hängt auch mit ihrer geschickten Wahlstrategie zusammen. Die moderate Parlamentsabgeordnete Beata Szydlo, die als Leiterin der Wahlkampagne von Duda ins Rampenlicht rückte, agiert an vorderster Front. Sie wurde von der Partei schon vor einigen Monaten als Kandidatin für den Posten des Premierministers nominiert.
Politik für Verängstigte und Enttäuschte
Der umstrittene Parteichef Jaroslaw Kaczynski, zu dem Umfragen zufolge rund die Hälfte der Bevölkerung kein Vertrauen hat, hielt sich lange Zeit im Hintergrund. Er ist erst in den letzten Wochen wieder an Wahlveranstaltungen aufgetreten und sorgte prompt mit teilweise provokanten Äusserungen für Aufregung. Insbesondere Aussagen über Flüchtlinge – die PiS lehnt die Aufnahme von Flüchtlingen aus islamischen Ländern ab – erregten die Gemüter. Kaczynski warnte vor Krankheiten, welche Flüchtlinge nach Polen bringen könnten. Insbesondere gefährdeten Parasiten und Bakterien, welche den Flüchtlingen selber nicht schadeten, die Gesundheit der Bevölkerung. – Eine Formulierung, die man in Polen in ähnlicher Form von den Nazis gehört hatte.
Kaczynski sei überzeugt von seiner Mission. Er glaube die katholisch-traditionalistisch begründete Identität und die nationale Souveränität Polens verteidigen zu müssen, meint Maria Flis, Soziologin und Vizerektorin an der renommierten Jagiellonen Universität in Krakau. Er bilde mit seinen engsten Vertrauten das Machtzentrum und werde bei einer PiS-Regierung das Sagen haben. Neben den traditionellen PiS-Wählern, insbesondere den traditionalistischen Katholiken und der Landbevölkerung in den ärmeren Ostprovinzen, würden auch viele gut ausgebildete Junge PiS wählen. Denn ihre Erwartungen seien weitgehend enttäuscht worden: Jeder fünfte jugendliche Erwachsene ist arbeitslos, viele haben keine feste Anstellung.
Neben der Betonung national-konservativer Werte stellt die PiS soziale Anliegen in den Vordergrund und gibt sich als Partei der einfachen Leute aus. So will sie beispielsweise die unpopuläre Erhöhung des Rentenalters wieder rückgängig machen, eine staatliche Kinderzulage einführen, die Freigrenze bei den Einkommenssteuern erhöhen, einen Stundenmindestlohn von 12 Zloty (ca. 3.10 CHF) einführen und die Steuern für kleine Unternehmen senken.
Die PiS attackiert in ihrer Wahlkampagne scharf die regierende PO, ihre Hauptrivalin. Sie wirft ihr Unfähigkeit und Korruption sowie die Vernachlässigung polnischer Interessen vor, insbesondere gegenüber der EU. In einem ihrer Fernsehspots werden ohne Kommentar Korruptionsaffären und Skandale aufgelistet, in die Politiker der PO verwickelt waren. Am Schluss folgt die Aufforderung, diese Leute ja nicht mehr in den Sejm hineinzulassen.
Verteidigungslinie der regierenden PO
Die PO ihrerseits versucht in ihrer Wahlkampagne bisher erzielte Erfolge zu herauszustellen wie die Verbesserung der Infrastruktur, beachtliches Wirtschaftswachstum trotz Krise, Senkung der Arbeitslosenrate auf unter zehn Prozent, mehr Ausgaben für die Bildung. Auf einem Wahlplakat präsentiert die Parteichefin und Premierministerin Ewa Kopacz nur zwei Stichworte: starke Wirtschaft und höhere Löhne. Wie die PiS verspricht die PO soziale Verbesserungen, etwa bessere Arbeitsbedingungen für nicht festangestellte Mitarbeiter, ebenfalls einen Mindeststundenlohn von 12 Zloty, Steuererleichterungen für Familien mit Kindern.
Er wähle die PO nochmals, auch aus wahltaktischen Gründen, um den Vorsprung der PiS möglichst gering zu halten. Die PO habe zwar einiges erreicht. In ihren Reihen gebe es auch junge talentierte Politiker, und einem solchen gebe er seine Stimme. Aber insgesamt habe die Partei deutlich abgegeben. Es mangle an Geschlossenheit und zu viele Politiker verfolgten ihre eigenen Interessen. Dies meint Arkadiusz Cybuch, politisch interessierter Bankangestellter in Krakau und typischer Vertreter der städtischen Mittelklasse, welche die Hauptbastion der PO ausmacht. Seine Einschätzung dürften viele bisherige PO-Wähler teilen.
Heftige Wahlschlacht
Es ist deshalb keine Überraschung, dass die PO ebenfalls eine scharfe negative Wahlkampagne gegen die PiS fährt, um doch noch möglichst viele Wähler zu mobilisieren. In einem ihrem Wahlspot werden kurz einige Erfolge aufgelistet. Danach folgen extreme Äusserungen prominenter PiS-Politiker – und die Schlussfolgerung, Polen ja nicht diesen zu überlassen. In einem ihrer Interviews sprach Ewa Kopacz davon, eine PiS-Regierung könnte Polen wieder ins Mittelalter zurückführen, es drohe die Gefahr eines Glaubensstaates.
In den zahlreichen Wahlveranstaltungen – Spitzenpolitiker wie Beata Szydlo reisen mit einem speziellen Bus durchs Land – werden Wahlversprechen propagiert und die Gegner heftig attackiert. In den Fernsehdiskussionen werden vor allem wechselseitige Vorwürfe ausgetauscht, interessante inhaltliche Auseinandersetzungen sind die Ausnahme. Es wird oft wild durcheinander geredet, die Moderatoren haben alles andere als einen leichten Job.
In der Fernsehdebatte vom letzten Montag standen sich die beiden Haptexponenten gegenüber, Premierministerin Ewa Kopacz und die Kandidatin der PiS , Beata Szydlo. Es dominierte die Kritik am politischen Gegner, eine Diskussion fand nicht statt. Unangenehme Fragen wurden einfach ignoriert. Szydlo holte mit ihrem ruhigen und Selbstsicherheit ausstrahlenden Auftreten mehr Punkte, und dies trotz ihrer floskelhaften Botschaften. Ihr Stab inszenierte sie mit jubelnden Anhängern schon als eigentliche Siegerin. Kopacz wirkte defensiver und nervöser, argumentierte aber inhaltlich konkreter. In einer Umfrage resultierte ein Unentschieden.
Am Dienstag traten dann in einer grossen Wahlsendung die Spitzenkandidaten der acht Parteien auf, die landesweit an den Wahlen teilnehmen. Sie hatten alle auf die gleichen Fragen zu verschiedenen Themen zu antworten. Das Spektrum reihte dabei von ganz rechts bis ganz links. Vor allem Vertreter kleinerer Parteien konnten sich dabei in Szene setzen. Die sonst dominante Polarisierung PiS kontra PO trat in den Hintergrund.
Wachsende Politikverdrossenheit
Ob die Debatten dazu geführt haben, dass mehr Leute an die Urne gehen, ist aber fraglich. Er werde wohl nicht wählen gehen, er habe die Intrigen und gehässigen Auseinandersetzungen der Politiker satt, meint Mariusz Rosinksi, Direktor eines Alters- und Pflegeheims. Er sehe das sogar in seiner Kleinstadt, wo sich die Parteien heftig bekämpften. Rund die Hälfte der Wahlberechtigten werden Prognosen von Politologen zufolge nicht wählen gehen.
Die Polen haben traditionellerweise ein distanziertes Verhältnis zu den staatlichen Institutionen und vor allem zu der unbeliebten politischen Elite. In meinem Laden diskutieren die Leute nicht über Politik, meint eine junge Verkäuferin in einem Kleinladen in einem Aussenquartier von Krakau. Ob sie selber wählen gehe, wisse sie noch nicht, keine Partei überzeuge sie wirklich.
Fragliches Abschneiden der kleinen Parteien
Was den Wahlausgang spannend macht, ist die grosse Unsicherheit, wie die kleineren Parteien abschneiden. Je nach Umfrage schaffen es eine bis fünf Parteien, die Eintrittshürde von fünf Prozent zu überspringen. Überraschenderweise bewegt sich auch die Traditionspartei PSL (Polnische Volkspartei), der Koalitionspartner der PO, an der Eintrittsgrenze. Die PSL, die vor einem Jahr bei den Lokalwahlen noch stark zulegen konnte, hat ihre soziale Basis auf dem Lande, wo ihr nun die Konkurrenz der erstarkten PiS zu schaffen macht.
Das beste Resultat der kleineren Parteien wird wohl die ZL (die Vereinigte Linke) erzielen. Nach dem Debakel bei den Präsidentschaftswahlen treten zum ersten Mal vier Parteien gemeinsam zu den Wahlen an, allerdings mehr der Not gehorchend als aus Überzeugung. Immerhin konnten sie sich auf ein soziale Gerechtigkeit und Umverteilung hervorhebendes Programm einigen – und vor drei Wochen endlich auch auf eine attraktive Spitzenkandidatin.
Die junge Barbara Nowadzka kommt aus der NGO-Szene und hatte bisher keine politischen Ämter. Sie sieht nicht nur gut aus, sondern überzeugt auch durch eine besonnene Argumentation. Wie weit die SL das verlorene Vertrauen wieder zurückgewinnen kann, ist allerdings eine offene Frage. Als links bezeichnen sich aktuell immer noch 20 Prozent, 31 Prozent als rechts.
Attraktive neue Parteien
Zudem hat die vereinigte Linke Konkurrenz bekommen. Die neu gegründete Partei Razem politisiert deutlich links von der ZL. Sie konnte sich zwar noch wenig in Szene setzen, hat aber durch ihre unkonventionelle Art und das authentische Engagement vor allem unter jungen Erwachsenen Zulauf bekommen.
Besonders gespannt ist man auf das Abschneiden zweier ebenfalls neuer Parteien. Die national-populistische Protestbewegung Kukiz 15 des Rocksängers Pawel Kukiz, der bei den Präsidentschaftswahlen noch sensationelle 20 Prozent erzielte, hat stark an Attraktivität verloren. Kukiz verfügt als politischer Aussenseiter zwar noch immer über ein beträchtliches Vertrauenskapital; in einer Umfrage rangierte er hinter Präsident Duda und Premierministerin Kopacz sogar an dritter Stelle. Zu unklar ist aber die programmatische Ausrichtung, zu gross die internen Unterschiede und Querelen, zu schwach die politische Kompetenz des Leaders.
Er werde Petru wählen, der sei unverbraucht, verstehe etwas von Wirtschaft und habe ein klar liberales Programm, nicht nur in wirtschaftlich-sozialen, sondern auch in kulturell-weltanschaulichen Belangen, meint der 30jährige Grzegorz Samitowski, der eine Chefposition in einer polnischen Consultingfirma einnimmt. Von den etablierten Politikern hält er wenig, das System der „znajomosci“ (Vitaman B) und der „uklady“ (Beziehungsnetze) sei immer noch sehr lebendig. Die Partei Nowoczesna (die Moderne) von Ryszard Petru schlägt beispielsweise eine radikale Steuerreform vor sowie die Abschaffung der Bezahlung des Religionsunterrichtes durch den Staat. Petru hat vor allem unter den Jungen und der Wirtschaftselite überzeugte Anhänger.
Spannend wird es am nächsten Sonntag auf jeden Fall. Dass die PiS eine absolute Mehrheit erreicht, ist wenig wahrscheinlich. Und dann geht das Gerangel erst recht los. Es dürfte nicht leicht werden, eine Koalitionsregierung zu bilden. Selbst eine Anti-PiS Koalition liegt im Bereich des Möglichen.