Es ist wieder die hohe Zeit der Chöre. „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“, singen sie. „And the glory of the Lord shall be revealed, and all flesh shall see it“, lassen sie es schallen. Neben ungezählten Aufführungen von Spitzenwerken wie Bachs Weihnachtsoratorium und Händels Messiah nehmen klassisch ausgerichtete Chöre in der Advents- und Weihnachtszeit auch viele weitere Oratorien, Kantaten, Motetten, Madrigale von der Renaissance bis zur Gegenwart in ihre Programme.
Gegen 700 Ensembles führt das Verzeichnis der Klassischen Chöre der Schweiz. Einige Dutzend unter ihnen rechnen sich zu den Klangkörpern mit gehobenen bis hohen Ansprüchen; das bedeutet, dass sie ihre Mitglieder sorgfältig auswählen und geschulte Stimmen verlangen. An der Spitze der Qualitätspyramide bewegt sich die kleine Elite der Chöre, die sich aus professionellen Sängerinnen und Sängern zusammensetzen.
Inkludierender Charakter des Chorischen
Grosse Musik, dargeboten von Chören der oberen Ligen, das ist nicht nur Kunstgenuss, sondern auch ein Gefühlsbad besonderer Art. Die in Harmonien und Rhythmen verbundenen Stimmen können noch anders berühren, als Orchesterklang es vermag. Vokale und instrumentale Soli mögen entzücken und begeistern; kompakter Chorklang jedoch spricht die Zuhörenden in einer Weise an, dass sie sich geradezu gemeint fühlen.
Schon im antiken Theater ist der Chor die auf das Geschehen blickende Instanz und damit das Angebot ans Publikum, sich jene Sicht zu eigen zu machen, welche das dramatische Geschehen auf der Bühne durchschaut. In barocken Oratorien vertritt der Chor die Gemeinde, die den Sinn des Heilsdramas versteht und sich ihm öffnet. Diese kulturhistorischen Prägungen haben dem Chorischen auf Dauer einen inkludierenden Charakter verliehen.
Wo immer das Element Chor tragende Rollen spielt, ist ein aus souveräner Distanz zuhörendes und urteilendes Publikum gewissermassen nicht vorgesehen. Das Chorische hat es in sich, die Zweiteilung in Aufführende hier und Publikum dort zu überspringen. Der Chor agiert anstelle der Zuhörenden und nimmt sie dadurch unmittelbar ins musikalische oder dramatische Geschehen herein.
Exponieren und eingliedern
In einem Chor zu singen, verlangt die Bewältigung einer doppelten und erst noch in sich widersprüchlichen Herausforderung. Auf der einen Seite exponiert sich, wer mit nichts als der eigenen, individuellen Stimme Musik macht. Das liegt zunächst an gesangstechnischen Anforderungen. Sie sind für die Mitwirkung in einem Elite-Chor kaum geringer als diejenigen ans instrumentale Können der professionellen Orchestermusikerinnen und -musiker, die solche Ensembles üblicherweise begleiten. Doch ohne die Objektivierung der musikalischen Darbietung durch ein Instrument kommt die quasi nackte stimmliche Präsenz des Singens einer rückhaltlos persönlichen Äusserung gleich. Zum Singen gehört deshalb mehr als bloss Technik. Gesang ist auch eine Form der Selbsterfahrung, weil dessen „Instrument“ der Körper und die eigene Person ist.
Gegenläufig zu diesem sich Ergründen und Exponieren erfordert der Chorgesang auf der anderen Seite die homophone Eingliederung in die Stimmgruppe und ins präzise gemeinsame Erschaffen der Interpretation mit dem ganzen Klangkörper. Je höher das anvisierte Qualitätsniveau des Chors, desto anspruchsvoller wird die Bewältigung der doppelten Anforderung. Chorgesang auf hohem Niveau erschöpft sich somit nicht in einer kollektiven Disziplinierung individueller Stimmen, sondern beruht auf dem lebendigen Ineinander von Heraustreten und sich Eingliedern.
Schauder und Tränchen
Es muss an dieser komplexen Leistung hängen, die im chorischen Musizieren steckt, dass die Wirkung von Chorklang bei den Hörenden eine ähnliche Doppelstruktur zeigt: Man fühlt sich angesprochen, hat das Gefühl, auf die Musik zu antworten und tritt in dieser persönlichen Reaktion aus der eigenen beobachtenden und geniessenden Distanz heraus. In dieser ebenfalls „exponierten“ Position spüren Hörende jene strukturelle Gegenseitigkeit des Chorischen, das herausfordert und einbezieht. Es erfasst sie genauso wie die Singenden. Und so lassen sie sich willig mitnehmen in einen Zusammenklang, ins Einverständnis mit dieser „Instanz Chor“.
Solche Konsonanz zwischen der Doppelanforderung des Chorsingens auf der einen und der Doppelwirkung des Chorhörens auf der anderen Seite ist wohl ein Grund dafür, dass es nicht aufhört mit den Chorkonzerten. Ohne derartige innere Korrespondenzen sowohl auf wie vor dem Podium käme es nicht zur nie versiegenden Faszination des konzertanten Chorgesangs. Und ohne sie würden Choristen kaum freiwillig die Mengen von Zeit und Energie (und in vielen Chören auch Geld!) aufbringen, die es für all die Konzerte braucht.
Möge es so bleiben, damit uns bei „Jauchzet, frohlocket“ und „And the glory of the Lord“ noch viele Male ein Schauder über den Rücken läuft und ein Tränchen ins Auge schiesst!