Das Glücksgefühl hängt vom Empfangsmodus unserer Seele ab. Das gilt ganz besonders für das Unterwegssein. Es muss nicht immer die Strada alta, der Weg der Schweiz oder die Chastè am Silsersee sein, um das Glück zu spüren. Gerade an einem Tag wie gestern, wenn in der Morgendämmerung verhaltenes Vogelgezwitscher Vorahnungen auf den Frühling weckt, liegt das Glück sozusagen vor der Haustür. Man muss sie nur öffnen, diese Türe, und den kleinen Weg hinauf zur Schiedhalden nehmen, wo der 919er-Bus nach Zumikon fährt.
Während ich warte, flitzen von allen Seiten die Autos auf den Verkehrskreisel zu, benützen den rechten Augenblick, um sich einzuordnen und verschwinden dann wieder mit aufheulendem Motor aus meinem Gesichtsfeld. Wie emsige Insekten kommen sie mir vor, die raschen Kleinen, welche sich ungeduldig an die hintere Stossstange der schweren Geländewagen – an der Goldküste keine Mangelware – heften. Dazwischen hört man die Motorbremse der vom Berg herunterkommenden Lastwagen, welche sich nicht hetzen lassen.
Ein Kommen und Gehen herrscht an dieser Kreuzung, und doch stehe ich als Mensch hier ganz allein, kann niemandem einen guten Tag wünschen oder etwas zum blauen Himmel sagen, der sich immer deutlicher gegen den Nebel durchsetzt. Ich frage mich, wie es wohl hier an der Alten Landstrasse vor hundert Jahren ausgesehen haben mag, als die meisten zu Fuss unterwegs waren und sich nicht in Blechkisten dem sozialen Kontakt mit ihren Mitmenschen entzogen.
Mein Bus biegt um die Ecke. Heute ist er fast leer. Die sonst in verschiedenen Sprachen fröhlich lärmenden Schüler unterwegs zur Intercommunity School, die ich im Sommer jeweils auf dieser Strecke antreffe, scheinen schon in ihren Klassenzimmern zu sitzen. Ich bin heute bequem und lasse mich nach Zumikon hinauffahren. Hinter dem Pfannenstil geht, halb verdeckt von Nebelfetzen, die Sonne auf. In Waltikon steige ich aus, nehme den Weg Richtung Binz, am nördlichen Rand des Golfplatzes vorbei.
Während zwei Jahren waren hier die Landschaftsgärtner am Werk, haben den Golfplatz vergrössert, künstliche Seen angelegt, Bäume gefällt und neue gepflanzt. Dem Strässchen entlang, das zum Guglenwald hinaufführt, zähle ich 15 junge Bäumchen. Sie stehen in Reih und Glied, gesichert durch jeweils drei hohe Pfähle, welche sie vor jenen Stürmen schützen sollen, die seit einigen Jahren Namen tragen. Burglind scheinen sie alle überstanden zu haben.
Ein kurzes Stück gehe ich durch den Wald. Von irgendwo ertönt der Trommelwirbel eines Spechtes. Ich spähe vergeblich nach ihm, möchte wissen, ob es der Schwarzspecht ist, den ich kürzlich in der Nähe durch den Wald habe fliegen sehen. Plötzlich ein anderer Ton: Metallisch, hektisch, unnatürlich. Ein älteres Paar kommt mir entgegen, bewaffnet mit Stöcken, die sie beim Gehen energisch auf den Boden rammen. – Wieso ärgere ich mich? Es könnte ja sein, dass es ein Tier gibt, das ein ähnliches Geräusch verursacht. Würde ich es in diesem Fall als schön empfinden wie das Gehämmer des Spechts? Erscheint uns als schön, was von der Natur, also nicht vom Menschen kommt?
Auf einer Waldwiese am gegen Süden orientierten Waldrand ist der Schnee geschmolzen. Das trockene Eichenlaub verheisst den Frühling. Jemand hat einen einfachen Feuerplatz eingerichtet, ein paar Holzscheite und einen Baumstrunk zum Verweilen daneben gestellt. Es ist wie ein Trugbild, das mich narrt und vergessen machen will, dass es erst Januar ist und die kommenden Wochen noch tiefen Winter bringen könnten.
Überraschend und abrupt führt der Wanderweg vom Wald auf eine kurze Quartierstrasse. Rechts stehen Mehrfamilienhäuser, die eher nach Schwamendingen oder Dübendorf passen würden. Links gibt es einen kleinen Friedhof, der sich bis zum Walde hinzieht, die Grabsteine in Reih und Glied. Beim Näherkommen sehe ich, dass sie hebräisch beschriftet sind. Später lese ich im Internet, der israelitische Friedhof Binz sei bereits im Jahr 1936 angelegt worden ist. Er musste wohl damals fern von allen Siedlungen in friedlicher Einsamkeit vor sich hin geschlummert haben.
Nach wenigen Metern bin ich wieder im Wald. Vor dem Aufstieg zum Adlisberg muss ich zwei Autostrassen überqueren (Geräusche störend, weil vom Menschen verursacht, sagt mir eine innere Stimme). Es sind die einzigen Strassen auf meinem ganzen Weg, so wie die beiden Stöckler die einzigen Menschen sind, denen ich bis zum Restaurant Degenried begegne. Zwischen den Bäumen taucht der Aussichtsturm auf dem Loorenchopf auf.
Früher, als ich diesen Weg noch mit meiner Hündin gegangen war, liess ich den Turm rechts liegen. Zora wäre zwar noch so gern die Wendeltreppe hochgeklettert, aber das schien mir doch zu gefährlich. Jetzt habe ich keine Entschuldigung mehr. Ohne Zählen kein Treppensteigen: Sechs Etagen und 113 Stufen sind’s, fast 6 mal 19, aber zuunterst fehlt eine Stufe, nur der Turmbauer weiss wieso. Der Blick in die Zentralschweiz und ins Glarnerland wäre grossartig, aber ausgerechnet jetzt wagt der Nebel noch eine letzte Attacke gegen die Sonne. Umso geheimnisvoller ist der Blick hinunter auf den Zürichsee.
Jetzt wird es höchste Zeit für Kaffee und Gipfeli im Restaurant Degenried. Wer würde schon vermuten, dass kaum zwei Kilometer von Zürichs Stadtzentrum entfernt, mitten im Wald ein Wirtshaus steht? Vor dem Mittag ist man hier fast allein: Eine Stadtpolizistin macht mit ihrem Kollegen Znünipause, am Nebentisch liest ein Paar schweigend die Zeitung. Jedes Wort würde hier stören wie in der Kirche, sässen nicht hinter mir zwei ältere Damen, die sich munter Geschichten aus früheren Zeiten erzählen.
Vom Degenried wäre man zu Fuss in wenigen Minuten unten am Klusplatz. Ich gehe vom Degenried noch einmal ein Stück bergauf. Von Ferne ertönt ein undefinierbarer Lärm, wird stärker und verwandelt sich schliesslich in jene unverkennbare Geräuschkulisse, welche jede Eisbahn umgibt: eine Mischung aus fröhlichem Geschrei, das laut wird, sobald junge Menschen auf Schlittschuhen stehen, und dem dumpfen Knall des Pucks, der an die Holzwand fliegt.
Die Stadt Zürich hat sich hier oben am Dolder schon vor vielen Jahrzehnten einen Platz für Besonderes reserviert, für ein Grandhotel, eine Kunsteisbahn und für das berühmte Wellenbad, das allerdings seit gut zehn Jahren ohne Welle auszukommen hat. Um den Städtern die Strapazen des Aufstiegs zum Zürichberg zu ersparen, baute man schon 1893 vom Römerhof eine Drahtseilbahn zum Waldhaus hinauf. Von dort führte ab 1899 ein elektrisches (!) Tram den kurzen Weg zum Grandhotel. 1930 wurde das Tram durch einen Bus ersetzt.
In einem anderen Land wäre die Dolderbahn wahrscheinlich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als das Auto König der Mobilität wurde, dem Untergang geweiht gewesen. Zum Glück waren wir in der Schweiz weitsichtiger – oder einfach konservativer. Die Dolderbahn überlebte nicht nur, sondern wurde 1971 gar bis zum Grandhotel hinauf verlängert und gleichzeitig zur Zahnradbahn umgebaut. Ja, Zürich hat seine eigene Zahnradbahn, und wenn sie auch nicht auf die Rigi führt, so weckt sie im Städter doch für sechs Minuten die entsprechende Illusion.
Der rote Triebwagen fährt mich zum Römerhof hinunter. Als ich dort auf das 8er-Tram zum Stadelhofen warte, schaue ich noch einmal hinauf zum waldigen Berg und freue mich auf das Mittagessen zuhause.
Alle Fotos: Dieter Imboden