Gerne übersehen wir für einmal dieses Thema angesichts eines Forschungssegens, der auch seine populär zubereiteten Erträge Jahr für Jahr springflutartig vermehrt und in allen Richtungen ins Unabsehbare erweitert. Zumal was die fürs breite Publikum geschriebene Geschichte angeht, hat das vergangene 2019 wieder mit einer Fülle von Neuerscheinungen aufgewartet, die uns keinesfalls fürchten lassen dürfen, sie nicht binnen einem Jahr zu Ende gelesen zu haben. Bei deren alles zuvor Gesehene übertreffender Gründlichkeit und Qualität wird es Ihnen zunächst vollauf genügen dürfen, wenigstens einige davon in Ihrem beruhigenden Besitz zu wissen. In der Absicht einer Anzeige bescheidenster Art seien nur vier davon herausgegriffen. Besprechungen, die sich und Lesern das traditionelle Rezensentensoll einer «kritischen Würdigung» zumuten, lassen sich im Netz unschwer zusammensuchen.
500 Jahre Völkerwanderung
Migration ist aktuell, war und wird es bleiben. Weltweit, nicht nur übers und rund ums Mittelmeer, doch auch da, mit einem über die drei Kontinente Afrika, (Vorder-)Asien und Europa rotierenden Radius von Äthiopien und Jemen über Mesopotamien und den Hindukusch bis nach Skandinavien und dem Britannia des Brexit aus dem Imperium Romanum zu Beginn des 5. Jahrhunderts. Über ein halbes Jahrtausend spannt sich der Zeitraum auf, den der Tübinger Althistoriker Mischa Meier auf den 1532 Seiten (1,9 kg) seiner «Geschichte der Völkerwanderung» durchmisst – Untertitel: «Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Ch.» (C. H. Beck, München 19. Sept. 2019). Sogleich reich bedient sind passionierte Leser fünfseitiger Inhaltsverzeichnisse.
Die Zentren Rom und Byzanz sind seit der Reichsteilung 395 nicht nur auseinandergedriftet, seit der Plünderung Roms 410 durch Alarichs Goten, Hunnen und Alanen gibt es kein westliches Zentrum mehr. Datumzeile Byzanz, 29. Juli 626.–– Vor den Toren der prächtigsten Stadt der Welt und der Kapitale der Christenheit stehen 80’000 Krieger der Awaren, die Mächte der Finsternis, für die eingeschlossene Bevölkerung das Ende aller Zeiten. Die Apokalypse ist schon ein Jahrhundert lang im Gang. 536 befördern Vulkanausbrüche in Fernost und Amerika enorme Aschemassen in die Stratosphäre, welche durch einen Klimasturz den Planeten mit Hungersnöten überziehen und nördliche Völkerschaften südwärts drängen. 542 tritt, aus Ägypten kommend, die justinianische Pest nördlich des Mittelmeers ein und reduziert die Bevölkerung bis zur Nordsee auf ein Drittel.
Die Antike ist zu Ende, so gut wie ihre ganze Bevölkerung zwischen den Ruinen in Bewegung. Von den alten abendländischen Hochkulturen behauptet sich als einziger Rest Byzanz gegen die nördlichen «Horden» wie ebenso gegen die persischen Heere der Sassaniden, deren Druck gegen Mitte des 6. Jh. zu wachsen beginnt, bevor ihr Reich im 7. Jh. unter dem Ansturm der Araber zusammenbricht. Oströmische Christen und die Gefolgschaft des Propheten aus Mekka profitieren dabei von unverbrieften Zweckallianzen. Zur Erhaltung Ostroms werden Aspirationen auf den römischen Westen aufgeben und die Beutezüge von Goten wie zuvor der Hunnen recht erfolgreich dahin umgeleitet. Während der islamischen Expansion im 7. und 8. Jahrhundert lässt derweil die Formierung neuer Reiche im poströmischen Norden auf sich warten. Mischa Meier schreitet den Horizont ab: vom Bottnischen Meerbusen durch Germania, zu den Angeln, Galliern, Iberern, mit den Vandalen nach Nordafrika, mit den christlichen Axumitern im Norden Äthiopiens zu den Juden Himyars in Südarabien, mit den Persern und Arabern nach Zentralasien. Meiers Überblick wird rings im Kritikerkreis als einzigartig gerühmt.
Berufenere Rezensenten weisen auf ein neues Bild der Ethnogenese in den betreffenden Jahrhunderten hin: In weit geringerem Masse, als die traditionelle Geschichtsschreibung gern geglaubt hat, sind Völkerschaften etwas Vorgegebenes, vielmehr entstehen sie aus zusammengewürfelten Kriegerscharen, von Warlords kommandierten Privatarmeen, nachdem sich schon die Heere der römischen Spätzeit zu guten Teilen aus Schmelztiegeln von Barbaren aus allen Himmelsrichtungen zusammengesetzt haben. Staatsartige Strukturen erhalten oder entwickeln sich nach Massgabe der Ressourcen an Verwaltungsexpertise. Eines der Bücher unten wird darauf nochmals ein Streiflicht werfen.
3000 Jahre Araber
Mit Südarabien ist das Stichwort gefallen. 1982 traf Tim Mackintosh-Smith, damals ein 21-jähriger Arabistik-Student aus Oxford, in Jemens Hauptstadt Sanaa ein, wo er in einem Turmhaus der Altstadt seinen Posten bis heute behauptet hat. 1997 veröffentlichte er sein erstes Buch: «Yemen: Travels in Dictionaryland», das oft als das beste Buch zu Jemen überhaupt gepriesen wurde. Wie sonst nur in Ägypten, Griechenland und Teilen Italiens liegen in Jemen die Zeugnisse aus 3000 Jahren allgegenwärtig vor Augen, und nirgendwo wie in Jemen prägt die grosse Geschichte das gesellschaftliche und kulturelle Leben bis heute und vermutlich lang darüber hinaus. Mit der Gegenwart ist in diesem Buch durchweg mindestens das ganze 20. Jahrhundert im Blick, und jedes seiner Kapitel sucht sie vor so viel unauslotbarem Hintergrund zu enträtseln. 2001–2010 folgte eine Trilogie «Fussnoten» zu den Reisen des Ibn Battuta (1304 bis ca.1370), der von Tanger aus dreissig Jahre lang die gesamte islamische Welt von Timbuktu bis Fernost durchkreuzte: 120’000 Kilometer, errechnen Kenner. Mackintosh-Smith ist ihm über einen Zeitraum von ebenfalls dreissig Jahren nachgereist. Wer nun aber nach dem allem in seinem eigenen restlichen Erdendasein nur ein einziges Buch über die Araber lesen dürfte, wäre endlich damit bedient, dieses Buch liegt seit einem Dreivierteljahr vor:
Mackintosh-Smith, Tim: Arabs: A 3’000-Year History of Peoples, Tribes and Empires. Yale University Press, 2019; 630 S., 1,3 kg).
Der Titel sagt alles, verspricht viel, und das Buch, das nur von der ganzen Welt handeln kann, hält mehr (wo immer Sie es aufschlagen). Die grosse Review haben Sie hier:
https://www.nybooks.com/articles/2019/11/21/power-arabic-mackintosh-smith-sanaa/
Eine Ergänzung – oder Fussnote? – wäre Richard Bulliets «The Camel and the Wheel» (Morningside Books, Columbia University Press, New York, 1990).
Nie zu vergessen: die Bibel
Unterwegs in solchen Zeiträumen, drängt sich ein Seitenblick auf: Ein besonderes Buch ist immerzu die Bibel, insbesondere hinsichtlich seiner Entstehung. Auf eineinhalb Jahrtausende ist seine Urheberschaft verteilt, vom 10. Jahrhundert v. Chr. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. gliedern Konrad Schmid und Jens Schröter den Stoff im Inhaltsverzeichnis ihres Gemeinschaftswerks:
Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften. München: C. H. Beck, 2019; 504 S.
Schmid ist Professor für Altes Testament an der Uni Zürich, Schröter Professor für «Neues Testament und neutestamentliche Apokryphen an der Humboldt-Universität zu Berlin», so der Klappentext. An Bücherwänden im Bekanntenkreis traf man zuvor schon auf verschiedene populäre Titel mit demselben Programm. Etwas angestaubt: Günther S. Wegeners «6000 Jahre und ein Buch. Die Bibel – Biographie eines Bestsellers» (Oncken, Wuppertal 1958; mein Exemplar von 1999 ist aus der 13. Auflage 165.-179. Tausend). Unentbehrlich war mir bisher Martin Urbans «Die Bibel. Geschichte eines Buchs» (Berlin: Galiani, 2009; TB Dtv. München 2010). Angesichts der Weltlage ist eine gewisse Mindestbibelsicherheit angezeigt und wenigstens ein Buch dazu selbst in der Wohnstube nicht zu viel. Mit dem neuen schönen Band von Schmid und Schröter, der die Vorgänger überstrahlt, bringen uns zwei Kapazitäten auf den letzten Stand.
Unser tödlichster Fressfeind
Wie viele welthistorische Schlachten sind durch sie entschieden worden! Grossmächte durch sie zu Fall gebracht, menschheitsgeschichtliche Weichen gestellt. Die Rede ist vom tödlichsten Feind der Menschheit: den Moskitos. Nicht etwa nur die Malaria übertragen sie, auch Gelbfieber, Dengue-Fieber, West-Nil-Fieber, Zika, Filariasis. Dabei wollen die gefrässigen Biester doch nur an unser Blut, für sie wie für Goethes Dr. Faust «ein ganz besonderer Saft». Unbedingt aber müsste ihnen am Fortbestand der unentbehrlichen Wirte gelegen sein, wofür diese allerdings selber aufzukommen haben.
Die Perser wurden von verbündeten Griechen, Athenern, Spartanern, Korinthern und Megarern, auf Marschland gelockt, ehe ihre mitgenommene Streitmacht in der Schlacht von Plataea (479 v. Chr.) unterging. Für Jahrhunderte bildeten die pontinischen Sümpfe einen Schutzwall rings um Rom, welcher Kelten und Karthager fernhielt, um auf die Dauer schliesslich seinen Teil zum Niedergang der Stadt beizutragen. Besonders übel wurden die Kreuzfahrerheere zugerichtet, und so ging das weiter bis zum amerikanischen Befreiungskrieg, dem militärisch ungleichen Kräftemessen in ungezählten Kolonialkriegen und bis zu den Leiden der Amerikaner im Dschungel von Vietnam.
«Die Methode der Logik», so lässt Plato einen fremden Philosophen aus Elea dem Stundenten Theaitet einschärfen, «hält es nicht für würdevoller, wenn einer die Jagdkunst lieber durch die Feldherrenkunst erläutert als durch den Läusefang, sondern meistenteils nur für aufgeblasener». In der intellektuellen Distanz, die in dieser gänzlich neuen Perspektive erklommen ist, in nichts anderem wollte ich als Student einst den Anfang der überlegenen Wissenschaft des Abendlandes ausgemacht haben. Fürwahr ein Befreiungsschlag gegen die altväterischen Heerführer des Weltbewegenden, Bombastischen und Martialischen! Die universalistischen Europäer sind seitdem im Stande, ein jedes Ding zu relativieren. Nicht wenig stolz war ich auf meine ureigenste Entdeckung, ohne daran zu denken, dass sich auch der Kammerjäger weniger mit seinem aristokratischen Boss als mit hand- und beissfesten, ja, stichhaltigen Widersachern herumschlug. Um wie viel mehr erst die Kollegen auf dem Schlachtfeld.
Entnommen sind die schicksalhaften Episoden von Pataea bis Vietnam dem Buch «The Mosquito. A Human History of Our Deadliest Predator» von Timothy C. Winegard (Dutton, Penguin Books USA, Boston 6. August 2019; 485 S.). Der in Oxford promovierte Militärhistoriker beschränkt sich nicht aufs Schlachtengetümmel zwischen Sümpfen, sondern erklärt auch, weshalb und wie die afrikanische Resistenz gegen den Malaria-Parasiten Plasmodium vivax den transatlantischen Sklavenhandel befeuerte. Im 19. Jahrhundert schliesslich, der hohen Zeit des Imperialismus, avancierten die Anopheles und tausend weitere Mückenspezies zur Priorität der medizinischen Forschung. Die Experimente auf der Suche nach weniger zweischneidigen Mitteln als Gin & Tonic konzentrierten sich im Zweiten Weltkrieg in Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als nicht nur Gefangene in Dachau, sondern ebenso in US-amerikanischen Gefängnissen zu Tausenden als Versuchskaninchen missbraucht wurden, mit Todesraten von 10–30%. Durch keine andere Krankheit, so Winegard, haben sich vergleichbar viele Ärzte in ihrem enthemmten Forscherehrgeiz zu unmenschlichen Praktiken hinreissen lassen.
Nicht unterschlagen werden darf der Beitrag der Moskitos zur Entstehung eines frühen Gesundheitswesens – mit den weiterreichenden Entwicklungsbeiträgen von dessen Institutionen. Nach den Kirchen waren die Hospitäler die ersten festen Einrichtungen der christlichen Nächstenliebe und ihrer Verkündigung. Die Krankenpflege war es, woraus die Klöster ihre Daseinsberechtigung zu ziehen hatten, nachzulesen in der Ordensregel des Sankt Benedikt von Nursia (480–547). Aus den Klöstern sollten die Schulen und aus diesen eben die besagte Verwaltungsexpertise hervorgehen, von welcher nach dem Ruin der alten Reiche bei der Entstehung neuer staatlicher Strukturen alles abhing. So legen die Moskitos eine Spur von Konstantin dem Grossen, Roms erstem christlichen Kaiser (†337), über den Untergang des Reichs und durch das dunkelste Mittelalter hin zu Karl dem Grossen (747–814).
An der Sozialgeschichte – Wirtschaftsgeschichte inklusive – des menschlichen Zusammenlebens mit den Mücken wird noch lange zu schreiben sein. In den Jahren seit 2000 haben sie, immer nach Winegard, im Jahresdurchschnitt zwei Millionen Menschen umgebracht, bei abnehmenden Zahlen immerhin, 2018 bereits weniger als eine Million. In der Geschichte unserer Spezies ist die Gesamtzahl aller Exemplare, die je das Licht der Welt erblickt haben, nicht ganz einfach abzuschätzen. Aber es gibt Hochrechnungen, wonach es in den letzten 50’000 Jahren 100–110 Milliarden gewesen sind, 99% davon in den letzten 10’000, mehr als die Hälfte in den letzten 2000 Jahren. Winegard geht davon aus, dass nahezu die Hälfte von ihnen – nach seiner Schätzung 52 von 108 Milliarden – an Folgen von Mückenstichen gestorben sind.
Zeit für poetische Wirklichkeit
Der Gesichtssinn ist hier ausgeschaltet. Knipsen wir nochmal die Nachttischlampe an, obschon das Büchlein neben meinem Bett nur zwei traurig kurze Tage vorgehalten hat. Obacht! Mit einem Ruck sind wir auf einmal unserer Zeit voraus. Auf einer Vorsatzseite meines Exemplars lese ich die Bitte, dieses Buch nicht vor dem 27. Januar 2020 zu besprechen, da es erst dann erscheinen werde. Aber angekündigt darf es sein, wie schon vom Hanser Verlag in München, und ausserdem gepriesen. In tiefster Dunkelheit sind auf 237 Seiten (350 g) Arm in Arm zwei Unvergessliche unterwegs: Stan Laurel (1890–1965), zeitloser Leinwandkomiker hier für einmal ohne Oliver Hardy, und Thomas von Aquin (1225–1274), Baumeister des Lehrgebäudes der katholischen Kirche. Zwei Geistseelen, wie der heilige Thomas mutmasst, positioniert an entgegengesetzten Enden des Spektrums, das die Neigung zu und Empfänglichkeit für Humor und Komik aufspannt, getrennt dazu durch 700 Erdenjährchen und einiges mehr an zeitlichen und ewigen Geheimnissen. Sogleich sind wir gefesselt über einem Potpourri aus tiefstem Ernst, höchster Heiterkeit und charmantestem Schalk. Was immer die beiden anschneiden, es gerät zur grossen Lebensfrage, verhandelt mit einer geistvollen Leichtigkeit und sprachlichen Eleganz, die wir anderswo bei Zeitgenossen lange suchen würden. Orths ist ein kühner Taschenspieler und ein Poet, der uns – Aussprechen streng verboten! – allemal zu spüren gibt, dass und wie bei vielen Dingen zwischen Himmel und Erde die Suche nach der Lösung höchstens das Problem verkennen könnte. Dabei wissen wir es alle und wussten es schon immer: nicht jedes ist dafür geschaffen und gedacht, gelöst zu werden.