Unter rein ästhetischer Betrachtung überzeugen besonders die mehr oder weniger abstrakten Bilder von Nan Goldin. Farben und Formen bilden stimmige Kompositionen, wobei die Bildinhalte, oft nur schemenhaft erkennbar, von sekundärer Bedeutung sind. Da ist eine grosse Künstlerin am Werk, die das Medium der Fotografie ganz nach ihrer Intuition handhabt und die herkömmliche Fotografie souverän überschreitet.
„The Ballad of Sexual Dependency“
Würden nur diese Bilder Nan Goldins international ausgestellt und in diversen Fotobänden publiziert, dann hätte man es leicht mit ihr. Man könnte in ihr eine Fotografin in der Tradition der Romantik sehen, die ein Gespür für die Geheimnisse ihrer Umwelt hat und diese jeweils zum „Anfang eines unendlichen Romans“ (Novalis) machen kann.
Aber das ist nicht die ganze Nan Goldin. Es gibt eine zweite Seite, und diese Seite schockiert. Nan Goldin scheut sich nicht, Alltagsszenen zu fotografieren, die den durchschnittlichen kunstinteressierten Zeitgenossen abstossen müssen. Denn diese Alltagsszenen sind in der Subkultur New Yorks und anderer Städte angesiedelt, sie enthalten Drogenkonsum, Trash und Sex. Nan Goldin schreckt auch nicht davor zurück, ihre Freunde und sich selbst in sexuellen Szenen zu zeigen. Das sind Entblössungen in der Nähe zur Pornographie.
Eine ihrer frühesten Serien war „The Ballad of Sexual Dependency“, die derzeit wieder im MoMA in New York gezeigt wird. In dem Bildband von Steidl gibt es einzelne Bilder daraus. So zeigt sie sich selbst mit ihrem zeitweiligen Freund und andere Paare im Bett, ganz offensichtlich nach einem Geschlechtsverkehr. Enttäuschung, Resignation, Trauer kommen in diesen Bildern zum Ausdruck.
Ganz anders wiederum der Eindruck bei männlichen und weiblichen homosexuellen Paaren: Hier kann die pure Lust regieren. Sie kann, sie muss nicht. Denn in der Vielzahl der Bilder erkennt man auch andere Emotionen: Zweifel, Fragen – und doch auch wieder Zärtlichkeit. Und auf anderen Bildern wird geradezu urtümlich gelacht. So ist ihr ein hinreissendes Bild von ihrer Mutter gelungen.
Aber zunächst stellt sich bei den Porträts und Alltagsszenen Befremden ein. Die Bilder erschliessen sich erst nach und nach. Was auf den ersten Blick fotografisch banal aussieht, entschlüsselt sich erst bei mehrmaliger Betrachtung, und erst dann erkennt man die gestalterischen Pointen und die ästhetischen Reize.
Bilderflut
Es ist so, wie wenn man mit Nan Golding die Underground- und Drogenszene New Yorks und anderer Städte betreten würde. Sie hat dort gelebt und sie hat sich dort sehr schnell einen Namen gemacht. Laut den Berichten, die in einem früheren Band – „Nan Goldin, I’ll Be Your Mirror“, 1996 – abgedruckt sind, ist sie ein Genie im Knüpfen von Kontakten. Wo Goldin auftritt, ist immer etwas los. Und von Anfang an hat sie diese Szene gefilmt, Diaserien angefertigt und geknippst, geknippst, geknippst.
In einem Text von Walter Keller im vorliegenden Band heisst es, dass der Rahmen von Museen und Büchern für das Werk von Nan Goldin nicht ausreiche. Denn eigentlich müssten ihre Bilder in einer „immateriellen Form“ mit Abertausenden von Bildern in einer riesigen virtuellen Bibliothek präsentiert werden.
Die Schönheit im Alltag
Damit würde aber jede Form zerstört. Für Ausstellungen und Bücher muss jeweils eine Auswahl getroffen werden. Künstler, Kuratoren, Herausgeber und Lektoren müssen sich entscheiden, was das Publikum sehen soll. Formlosigkeit als Programm geht nicht. Zudem zeigt Nan Goldin über Jahrzehnte einige ihrer Bilder wieder und wieder. So trifft man auch im vorliegenden Band auf alte Bekannte, und das ist gut so. Aber, so lässt sich die Bemerkung von Walter Keller auch verstehen, Nan Goldin sprengt mit ihrem Underground nicht nur bürgerliche Konventionen, sondern tendenziell auch die Ausstellungs- und Publikationspraxis.
Keller macht auf einen weiteren Punkt aufmerksam. Eine alte Diskussion drehe sich um die Frage, ob namentlich in der Porträtfotografie durch die Kamera eine Distanz zwischen dem Fotografen und den Porträtierten geschaffen werde. Goldin wiederum würde diese Distanz „auslöschen“, zudem habe sie ständig weit ausgefahrene „Antennen“. Das ist ganz sicher so, und das erklärt auch die ungeheure Irritation, die von den Bildern ausgeht. Es ist, als würde man ständig von Fremden angesprochen, die darauf bestehen, dass sie gar nicht fremd seien. Und wenn man diesen Schrecken überwunden hat, zeigt sich Schönheit.
Nan Goldin: The Beautiful Smile. Steidl, Göttingen 2017, 160 Seiten.