Berichte über die Vorgänge in Mosul sind abrupt versiegt. Es ist kaum mehr etwas über die Kämpfe in Westmosul zu hören. Die wenigen erhältlichen Informationen geben zu verstehen, dass die irakischen Streitkräfte innerhalb der Altstadt nur langsam vorankommen. Sie standen vor zwei Wochen „in Sichtweite“ der symbolischen Nuri-Moschee mit dem sich neigenden Minarett, wo das „Kalifat“ des IS verkündet wurde. Dies scheint noch immer der Stand der Dinge zu sein.
Eingestürztes Haus
Wahrscheinlich ist die Verlangsamung des Tempos in Mosul mit den Ereignissen vom 17. März in Verbindung zu bringen. Damals kam es zum Einsturz eines Hauses im Viertel Mosul Dschadid (Neu Mosul), bei dem eine grosse Zahl von Zivilisten umkam. Die Zahlen waren sehr unterschiedlich je nach Quelle, sie reichten von 71, wie die amerikanischen Militärs sagten, bis zu 240, wie die lokalen Quellen behaupteten.
Was den Einsturz verursacht hatte, war ebenfalls unklar. Amerikanische Offiziere räumten ein, dass sie das Haus bombardiert hatten. Jedoch seien die dafür eingesetzten Lenkwaffen nicht schwer genug gewesen, um das Haus völlig zu zerstören. Irakische Offiziere behaupteten, das Haus sei vom IS mit Minen bestückt worden, die bei der Beschiessung explodiert seien. Dies gehe aus den Trümmern hervor. Noch andere sprachen von einem Selbstmordanschlag mit einem mit Sprengstoff gefüllten Lastwagen, der vor dem Haus explodiert sei, möglicherweise anlässlich der Bombardierung. Dies habe zum völligen Zusammenbruch des Gebäudes geführt.
Zivilisten als Schutzschilde des IS
Ein amerikanischer General sprach von einer Tragödie und räumte ein, zur Zeit der Zerstörung des Hauses habe ein Luftangriff der amerikanischen Koalition stattgefunden. Irakische Flüchtlinge gaben an, der IS zwinge zivile Bewohner von Westmosul, in bestimmten Häusern Unterschlupf zu suchen. Gleichzeitig postiere er Scharfschützen auf den Dächern dieser Häuser. Dies mit dem Ziel, Luftangriffe auf die Scharfschützen zu unterbinden, weil die Piloten damit rechnen müssten, dass ihre Bomben auch grössere Zahlen von Zivilisten in den Tod reissen würden.
Wieweit dies zutrifft und wie systematisch ein solcher – natürlich illegaler – Missbrauch von Zivilisten zum Schutz für IS-Kämpfer betrieben wird, ist schwer zu sagen. Es soll auch vorkommen, dass grössere Gruppen von irakischen Zivilisten gemeinsam in den solider gebauten Gebäuden mit Kellern Schutz suchen, und dass zugleich gerade diese Bauten auch von Scharfschützen des IS benutzt werden, weil sie von dort das Umfeld dominieren können. Die amerikanische Armee erklärte, sie untersuche die Vorfälle und Vorwürfe. Näheres über das Ergebnis der Untersuchungen wurde bisher nicht bekanntgegeben.
Divergierende Opferzahlen
Klagen über viele zivile Opfer anlässlich der Bombardierungen der amerikanischen Koalition hatte es schon zuvor gegeben. Nach den Darstellungen der amerikanischen Luftwaffe soll es im gesamten Krieg gegen den IS bis zum Beginn des März mindestens 219 zivile Opfer gegeben haben. In 43 verschiedenen Fällen werde aber noch weiter untersucht.
Die NGO „Air Wars“, die zivile Opfer des Luftkriege zu beziffern sucht, hat ihrerseits allein für den vergangenen März 1’058 zivile Todesopfer gezählt. Im Dezember zuvor sollen es „nur“ 465 gewesen sein. Auch Amnesty International sprach von sehr hohen Zahlen. Die sehr unterschiedlichen Angaben hängen mit den uneinheitlichen Kriterien zusammen, die von den verschiedenen Organisationen verwendet werden, um die Zahlen der Opfer festzustellen und zu kontrollieren.
Das irakische Verteidigungsministerium hat seinerseits Nachforschungen über die zivilen Opfer begonnen, und das irakische Parlament hat gefordert, dass die irakischen Offiziere dem Parlament einen Bericht über die Angelegenheit vorlegen und auch persönlich vor den Parlamentariern erscheinen.
Weniger Luftunterstützung?
Das bemerkenswerte Stillschweigen über die Kampfhandlungen in Mosul begann seit jenen Diskussionen und widersprüchlichen Veröffentlichungen. Dies lässt vermuten, dass die amerikanischen und irakischen Militärs sich veranlasst oder gezwungen sahen, ihre bisherigen Methoden zu korrigieren.
Allen Schilderungen nach war es bis zu jenen Ereignissen üblich gewesen, dass die irakischen Streitkräfte Bombenschläge anforderten, wenn sie durch IS-Scharfschützen oder entdeckte Selbstmord-Bombengefährte unter Druck gerieten. Die Bombenschläge folgten jeweils rasch und waren ein wichtiger und willkommener Schutz für die angreifenden Bodentruppen.
Angesichts der zivilen Opfer, insbesondere durch den Aufsehen erregenden Unglücksfall vom 17. März, könnte es für die irakischen Bodentruppen schwieriger geworden sein, Soforthilfe aus der Luft zu erhalten. Die grosse Gefahr für die eingeschlossene Zivilbevölkerung war allzu deutlich. Möglicherweise wurde zugleich auch die Berichterstattung von der Front eingeschränkt. Journalisten wurden nicht nach Mosul Dschadid durchgelassen. Jedenfalls scheinen die Kämpfe seither zu stagnieren. Als Neuigkeit verlautet einzig, in den engen Gassen der Innenstadt setze der IS nun Selbstmord-Motorräder ein an Stelle der früher verwendeten Lastwagen.
Gewollt langsameres Vorgehen?
Die IS-Kräfte, die in der Innenstadt von Westmosul ausharren, sind umzingelt; davonkommen werden sie nicht. Dies gibt den irakischen Bodentruppen die Möglichkeit, langsamer und vorsichtiger vorzudringen, ohne dass sie das Endergebnis eines Sieges über die zertrümmerte Stadt in Frage stellen müssen.
Doch in der Altstadt müssen sich immer noch grosse Zahlen von Zivilisten aufhalten. Wenn es rund 100’000 von ihnen gelungen ist, Westmosul während der Kämpfe zu verlassen, müssen mindestens 200’000 Menschen in den Stadtteilen geblieben sein, die noch vom IS beherrscht werden. Die Hälfte davon sind Kinder. Manche Beobachter nennen höhere Zahlen, bis zu 400’000. Für diese Personen ist jeder weitere Tag, den die Belagerung andauert, zunehmend lebensgefährlich. Zu den Bomben und eventuellen Verwendungen als Schutzschilder für die IS-Kämpfer kommt Nahrungs- und Trinkwassermangel hinzu. Seit Monaten schon ist die Rede davon, dass jeder Brennstoff fehlt, nicht nur zum Wärmen, sondern auch um die wenige noch verbliebene Nahrung zu kochen.
Kontraprodutive Rücksichten?
Dass die IS-Kämpfer ihre Vorräte mit der Bevölkerung teilen, die unter ihrer Bewachung lebt, ist natürlich nicht zu erwarten. Ihnen liegt offenbar nur noch daran, ihr eigenes Leben so teuer als möglich zu verkaufen. Dies legt den absurden und tragischen Schluss nahe, dass die humanitären Rücksichten, die eine Einschränkung der Luftwaffeneinsätze über der Altstadt von Mosul erfordern, gerade die Gefahr eines humanitären Desasters verschärfen, der die vielen Tausenden von in Mosul verbliebenen Zivilisten ausgesetzt sind.