In Norwegen hat eine Mehrheit für die Legaliserung der Homo-Ehe gestimmt. Der deutsche Bundestag will sie ebenfalls legalisieren. Auch Teile der Kirchen meinen, sich dem Fortschritt nicht verschliessen zu dürfen. Die französischen Sozialisten haben die „Ehe für alle“ auf ihrem Programm. Wer Bedenken äussert, steht auf verlorenem Posten.
Was ist Fortschritt?
Das Schema der Auseinandersetzung ist denkbar einfach: Wer fortschrittlich ist, tritt für die Homo-Ehe ein, wer Einwände vorbringt oder gar dagegen votiert, gehört zum Lager der Konservativen. Homosexuelle Partnerschaften sind zur Signatur des Fortschritts geworden. Was ist aber mit dem Fortschritt genau gemeint?
Vordergründig lässt sich der Fortschritt so verstehen, dass hemmende Sitten und moralische Normen aufgelöst werden müssen, wenn sie der Freiheit des Einzelnen Grenzen setzen. Die Selbstbestimmung ist oberste Norm. Dazu gesellt sich der Megatrend zur Gleichheit. Alles muss im Prinzip für jeden zugänglich sein. Wenn es Einschränkungen gibt, müssen diese beseitigt werden. Deswegen dürfen Fragen des Geschlechts keine ausschlaggebende Rolle mehr spielen.
Die Falle
Wer auf Ungleichheit beharrt, hat ganz schlechte Karten. Denn er beruft sich auf etwas, das - nach landläufiger Meinung - doch bestenfalls historischen und damit vorübergehenden Charakter hat. Alles fliesst. Da kann es nichts Festes mehr geben. Wer dennoch darauf pocht, muss sich Willkür vorhalten lassen. Denn es gibt keinen Zustand, keine Ordnung und keine Norm, für die sich in der Menschheitsgeschichte nicht auch das Gegenteil aufweisen liesse.
Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu rührend an, wenn konservative kirchliche Kreise, aber nicht nur diese, auf der Sonderstellung der traditionellen Ehe und Familie beharren. Und wer darin immer noch die „Keimzelle der Gesellschaft“ sieht, outet sich als unbelehrbarer Romantiker und Reaktionär. Das ist eine Falle, in die hineinlaufen kann, wer zu grundsätzlich argumentiert.
Trend zum Vulgären
Man kann die Betrachtungsweise aber umstellen. Denn der Megatrend zur Gleichheit und zur Einebnung aller Formen erlaubt andere Argumentationsmuster und Schlussfolgerungen. So konstatiert der Trendforscher David Bosshart, dass sich unsere Gesellschaft nicht nur in die Richtung immer billigerer Massenprodukte bewegt. Damit ist auch ein Trend zum Vulgären und Ordinären verbunden.
Das ist nur logisch. Denn die meisten Produkte und ihre Darbietung werden auf Massenmärkte abgestimmt. Da macht der kleinste gemeinsame Nenner den Erfolg aus. Alles, was störend sein könnte, wird abgeschliffen. Die Konsumgüter müssen den Kunden so weit wie möglich entgegenkommen und dürfen von ihm keinerlei Vorbereitung oder Anstrengung verlangen. Daraus ergibt sich eine Uniformierung der Produkte, die es völlig gleichgültig macht, ob man sie in einer Mall in Dubai, New York oder Stockholm kauft.
Leihmutterservice
Diese soziale Entropie überträgt sich auf alle Lebensformen. Wenn jemand Lust auf Homosexualität hat, dann wird ihm die Wirtschaft dafür alle Tore öffnen und ihn mit reichhaltigen Lifestyle-Accessoires versorgen – einschliesslich der passenden Angebote von IVF, PID und Leihmütterservice.
Megatrends und die mit ihnen verbundenen wirtschaftlichen Prozesse entziehen sich moralischer Beurteilung. Zwar redet man viel von Wirtschaftsethik, Grüner Technologie oder der Verantwortung der Wissenschaft, aber damit wird die jeweilige Dynamik von Wirtschaft, Technik und Wissenschaft nicht erfasst. Moral kann zwar eine Rolle spielen, aber sie ist nur ein Faktor unter vielen und bedarf anderer Kräfte, die sie stützen. In der Wirtschaft kann das zum Beispiel geschehen, indem Reputationsfragen für Unternehmen die Positionierung auf dem Markt massgeblich bestimmen. Reputation hängt mit moralischen Bewertungen zusammen: Ehre, wem Ehre gebührt. Wem sie abgesprochen wird, ist weg vom Markt.
Geschmacksfragen
Versteht man den Trend zur Legalisierung der Homo-Ehe nicht als moralisches Problem, sondern als einen Trend der Massenkultur, ergeben sich andere Optionen für die Beurteilung und die eigene Positionierung. So kann dieses Thema ebenso als Geschmacksfrage gesehen werden wie die Wahl der Art des Urlaubs oder der Wohnungseinrichtung.
Individueller Stil ist eine Geschmacksfrage, aber wer Stil hat, wird sich davor hüten, lauthals das zu kritisieren, was anderen gefällt, für ihn aber nicht in Frage kommt. Über Geschmack kann man nicht streiten. Wer Stil hat, schweigt.
Wer Vorbehalte gegen die Ausweitung der Homo-Ehe hat, ist zudem gut beraten, sich nicht auf moralisches Glatteis führen zu lassen. Zum grossen Ärger der Sozialisten ist in Frankreich die „Ehe für alle“ längst nicht so populär, wie diese geglaubt hatten, als sie sie zum zentralen Programmpunkt gemacht haben. Etwa die Hälfte der Franzosen steht diesem Thema laut Umfragen reserviert gegenüber. Das hat mit Moral nicht so fürchterlich viel zu tun. Stil und Geschmack sind in Frankreich wichtiger als moralische Imperative.
Designfragen
Auch die Kirchen könnten daraus lernen. Anstatt ihre Dogmen hin- und herzuwenden und je nach Lager und Interesse zurechtzubiegen, liesse sich die Frage stellen, welche Option jeweils passt. Von Dogmen zum Design: Welches Design passt zu welcher Kirche, welcher Gemeinde und Situation? Evangelische Kirchentage waren schon immer anders gestrickt als traditionsorientierte Landgemeinden.
Geschmack ist subjektiv. Sich darauf zu berufen, bewahrt vor Rechthaberei und Intoleranz. Aber die Berufung auf den Geschmack ermöglicht auch Abgrenzungen. Man muss nicht alles, was sich als Fortschritt drapiert und sowieso kommt, auch noch gut finden. Man kann sich abgrenzen, ohne abzuwerten.