Kapitel 2
«Sister Namibia», «Rosa Luxemburg des Südens» – so wird die namibische Aktivistin Visolela Rosa Namises genannt. Sie war die Hauptdarstellerin eines Dokumentarfilms, den Marianne Pletscher – damals Afrika-Korrespondentin von SRF – vor dreissig Jahren gedreht hatte. Jetzt, am 21. März, feiert das Land seine dreissigjährige Unabhängigkeit. Anlass für Marianne Pletscher, die Protagonistin ihres Films erneut zu besuchen und mit ihr durch Nambia zu reisen.
ROSA, ENGAGIERTE WAHLBEOBACHTERIN
Soeben hat Rosa ihren Ausweis als Wahlbeobachterin abgeholt und dabei ihren Vornamen Rosalinda durch den afrikanischen Namen Visolela ersetzen lassen.
Rosa: «Den Namen hat mir mein Vater gegeben, er bedeutet «Ich liebe die Welt», und ich benütze ihn erst, seit das Land unabhängig ist. Da mich aber die meisten Leute als Rosa kennen, habe ich es bis heute nicht geschafft, diesen Namen abzulegen.»
Wir bleiben also bei Rosa. Bevor wir uns wieder auf die Reise machen, spricht sie noch im Radio in der montäglichen Frauenstunde und fordert die Frauen zum Wählen auf. Sie wüssten selbst, wer auf ihrer Seite stünde. Diese Radiostunde, auch wenn sie sich in der Sprache der Damara vor allem an Menschen wendet, die diese Sprache oder das verwandte Nama sprechen, hat sie im ganzen Land bekannt gemacht – aber auch berüchtigt, als sie zum Beispiel öffentlich über Masturbation sprach.
Wahlbeobachterin, akkreditiert durch eine NGO, ist sie seit vielen Jahren, denn Rosa ist aus Prinzip misstrauisch. 2014 hatte Präsident Hage Geingob 86,7% der Stimmen erhalten und die Swapo 80%. Rosa glaubt, dass diese fast nordkoreanisch anmutenden Ergebnisse der regierenden Mehrheitspartei zustande kamen, weil die Leute wählen, ohne sich klar zu machen, dass man auch andere Parteien wählen könnte, denn die Partei der Befreier hatte bis vor kurzem fast Exklusivstatus.
Dieses Misstrauen teilt Rosa mit einem grossen Teil der Minderheitsparteien. Es hat vor allem damit zu tun, dass der grösste Stamm im Norden des Landes, die Ovambo, immer schon Swapo wählten und der Vorwurf dauernd im Raum steht, die Ovambo beherrschten das Land.
Überforderte Wähler und Funktionäre
Ich reise mit Rosa durch verschiedene Dörfer im Norden, von Wahllokal zu Wahllokal. Die Menschen warten in langen Schlangen und es stellt sich heraus, dass viele vom komplizierten Wahlprozedere überfordert sind, sogar die offiziellen Funktionäre. Rosas Hilfe ist sehr willkommen. Oft fehlt die richtige Registrierung, das kann aber nachgeholt werden.
Dann müssen an zwei Maschinen aus der Steinzeit der Digitalisierung die richtigen Knöpfe gedrückt werden. Die Finger der Abstimmenden werden markiert und beim Eingang mit einem Leuchtstift kontrolliert, damit keine und keiner zweimal die Knöpfe drückt. Rosa meint: «Viele Leute sind masslos überfordert. Sie wissen nur, welchen Knopf sie drücken sollen.»
Meine Stichproben-Interviews mit den Abstimmenden bestätigen das diffuse Gefühl, dass viele nach Instruktionen stimmen. Ein junger Mann sagt, der traditionelle Chief habe erklärt, wie man stimmen solle. Eine Frau meint, die andern 15 Parteien seien sowieso zu klein und keiner wisse, wofür sie stünden. Ein Dritter erklärt, als Ovambo müsse man die Swapo wählen, das habe sein Vater gesagt.
Gerüchte über verschwundene Maschinen
Im multiethnischen Land, in dem elf verschiedene Sprachen gesprochen werden, haben viele Angst, dass es zu ethnischen Spannungen kommen könnte, falls die Swapo die Macht verlieren würde. Diese Überlegungen können Menschen manipulieren, Wahlbetrug allerdings ist das noch nicht.
Am umstrittensten war nach den Wahlen, dass die elektronischen Geräte ohne Papierausdruck funktionierten und dass die Auszählung endlos dauerte. Gerüchte über verschwundene Maschinen und über Korruption bei der Wahlbehörde kursierten, nur schon, weil es tagelang dauerte bis ausgezählt war. Die Wahlbeobachtermission der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrika und der Afrikanischen Union allerdings erklärte, die Wahlen seien friedlich verlaufen.
Abgestrafte Swapo
Oppositionsparteien allerdings klagten am Höchsten Gericht wegen Wahlbetrug. Der Kläger, Panduleni Itula, ist selbst Mitglied der Swapo, kandidierte aber als Unabhängiger zum Präsidenten und erreichte immerhin fast 30% der Stimmen.
Auch ohne Wahlbetrug: Die Swapo wurde massiv abgestraft, sie hat ihre Zweidrittelmehrheit im Parlament verloren und der Präsident Hage Geingob, der kein Ovambo ist, sondern ein Damara wie Rosa, erhielt «nur» noch 56% der Stimmen.
Auf Platz 6 der stabilen afrikanischen Länder?
Fazit: Vor allem junge und urbane Wähler können sich nicht mehr mit den ehemaligen Freiheitskämpfern identifizieren. Politbeobachter der Universität Windhoek sagen, dies sei eine Chance, dass sich die Regierung auf die Werte der Verfassung besinne und endlich die Korruption in den Griff bekomme.
Auf dem Papier allerdings liegt Namibia laut «Fragile States» auf Platz 6 der stabilsten Länder.
Ein Leben im Autowrack
Rosa lacht nur, als ich diese Bewertung erwähne: «Ja, wir hatten alle Chancen nach der Unabhängigkeit, wirtschaftlich und politisch. Doch die Korruption ist so gewaltig, dass sie alles auffrisst. Ich sehe die verzweifelten Frauen und die unterernährten Kinder jeden Tag, deshalb habe ich auch vor fast zwanzig Jahren mein Kinderheim gegründet. Es stimmt, dass uns die Wirtschaftskrise und Aids in den Jahren nach der Unabhängigkeit schwer zu schaffen machten.
«Das erste Kind, das ich aufnahm, war ein Mädchen, dessen Mutter schwere Alkoholikerin war, und das in einem abgewrackten Auto lebte. Es war elfjährig und hatte noch nie eine Schule von innen gesehen. Bald kamen weitere Kinder dazu, meist Aidswaisen, und ich baute mein Haus aus. Immer mehr Kinder nahm ich auf. Dank einer deutschen Stiftung konnte ich ein neues Kinderheim bauen.»
Ethnisch durchmischt
«Das Kinderheim liegt in Katatura, der ehemaligen schwarzen Township, wo ich immer noch wohne», sagt Rosa. «Viele Bewohner Kataturas haben inzwischen kleine Häuser bauen können, aber Zehntausende leben immer noch in Wellblechhütten unter sehr schlechten hygienischen Verhältnissen.
Von den vielleicht 200’000 Menschen sind immer noch kaum eine Handvoll Weisse. Ich persönlich kenne nur zwei davon. Was besser geworden ist, die Menschen leben jetzt gemischt, nicht mehr unterteilt in die verschiedenen Ethnien, wie es das Apartheidregime vorschrieb.»
Rosa fährt fort: «Ich schaffe es, mit staatlichen Geldern und privaten Spenden diesen Kindern ein Heim zu bieten. Die Kinder sind jetzt in den Ferien auf meiner Farm, wir besuchen sie später und dann erzähle ich dir mehr. Auch meine Schwester Claudia leitet ein Heim. Sie betreut vor allem Kleinkinder.»
Wir besuchen Claudia, die mir mit Tränen in den Augen ein gerade angekommenes Kind zeigt. «Das Baby ist erst ein paar Tage alt, die Mutter, ein vierzehnjähriges Mädchen, ist von ihrem Vater vergewaltigt worden. Wer tut denn so etwas?»
Eine andere Schwester Rosas wohnt selbst immer noch in einer Wellblechhütte. Rosa: «Sie ist Schulabbrecherin. Ich habe sie jahrelang unterstützt, aber ich kann nicht meine ganze riesige Familie unterstützen, ich brauche das Geld für die Kinder. Vielleicht will sie ja auch einfach so leben.»
Bestechungsgelder in Millionenhöhe
Korruption ist eines der Hauptgesprächsthemen während unserer Fahrten durch die unendlichen Weiten Namibias. Im Moment reden alle im Land nur vom «Fishrot-Skandal». Dank eines Whistleblowers wurde bekannt, dass die isländische Firma Samherji namibischen Politikern systematisch Bestechungsgelder in Millionenhöhe bezahlte, um Zugang zu Fischereiquoten zu erhalten. Laut Wikileaks geht es um 10 Millionen US-Dollar. Im Moment sitzen zwei ehemalige Minister und mehrere Geschäftsleute in Untersuchungshaft.
Der Fernsehsender Al-Jazeera hatte den Korruptionsfall aufgegriffen, was wesentlich zur Festnahme der Minister geführt hatte. (Link zum Al-Jazeera-Beitrag: siehe unten.)
Einer der Verhafteten war ein Bekannter Rosas im Befreiungskampf. Sie meint dazu: «Dieser Skandal ist nur die Spitze des Eisbergs. Überall, wo unsere natürlichen Reichtümer im Spiel sind, bei den riesigen Fischvorkommen, den Bodenschätzen, wie Uran, Diamanten etc., und beim Bau von Strassen ist Korruption im Spiel, oft auch via chinesische Firmen, die sich überall breitmachen. Es stimmt, dass letzten Sommer das oberste Gericht erstmals eine regionale Ministerin der Korruption für schuldig befunden hat. Aber bei der Menge von Korruptionsfällen reicht das nicht. Wenn ehemalige Genossen, seien sie nun Minister oder Beamte, da mitmachen, tut das besonders weh.»
Grosse Villen für die Freiheitskämpfer
Rosa kann immer noch nicht glauben, wie sehr sich die ehemaligen Befreiungskämpfer verändert haben. Sie fährt fort: «Fast alle wurden Politiker, viele von ihnen konnten sich inzwischen grosse Villen bauen. Und immer geht das auf Kosten der einfachen Leute.
Beim Fischereibetrug zum Beispiel verloren Hunderte von einfachen Fischern ihre Jobs. Ich bringe dich jetzt zu einem Dorf, wo du sehr gut verstehen wirst, was es heisst, wenn das Geld dem Volk weggenommen wird.»
Die Statistik (Gini-Koeffizient) zeigt, wie sehr Rosas Argumentation stimmt. Namibia ist immer noch eines der Länder mit den grössten Einkommensunterschieden weltweit. Arbeitslosenunterstützung gibt es nicht, aber wenigstens wurde vor ein paar Jahren eine kleine Altersrente von heute 1700 namibischen Dollar (rund 120 Franken) eingeführt. Das gibt es in vielen afrikanischen Ländern noch nicht
Link zum Al-Jazeera-Film: Namibia: Anatomy of a Bribe (Al Jazeera Investigations):
Kapitel 1: (bereits publiziert) 30 Jahre nach der Unabhängigkeit: Der lange Weg zur Gleichberechtigung
Kapitel 2: «Sister Namibia»: Gegen Wahlbetrug und Korruption
Kapitel 3: (folgt am 14. März) «Willst du die ganze Last Namibias auf deinen Schultern tragen?»
Kapitel 4: (folgt am 21. März) «Good Morning Namibia»: Tun was getan werden muss
(alle Fotos: © Marianne Pletscher)