Heidi Klum und Dieter Bohlen sind bekannte Begriffe aus der Welt der Casting-Shows: „Germany‘s next Topmodel“ und „Deutschland sucht den Superstar“. Der flegelhaft ausfällige Dieter Bohlen lässt seine Jungen vor sich kriechen, verlacht, beschimpft sie. Der Pop-Titan führt diese armen Tröpfe durch die ganze Ochsentour, zieht sie durch den Kakao und erspart ihnen keine Peinlichkeit. Auch wenn sie vor ihm niederknien, schauen sie zu ihm hoch. Sie wollen schliesslich alle in den Recall.
Dieter Bohlen nimmt die Jungen wenigstens ernst
Warum tun sie das? Das fragte ich mich, als ich diese Serie sah. Ja, warum nehmen junge Leute eine solche Blamage, ja gar Häme auf sich? Sie fühlen sich von Dieter Bohlen ernst genommen. Das war meine spontane Hypothese, und das bestätigte die kluge Studie der Otto Brenner Stiftung mit dem Titel „Hohle Idole“. Die Ikonen Klum und Bohlen holen die Jugendlichen ab. Sie geben ihnen Orientierung, wie man ein vermeintlich erfolgreiches Leben erreicht.
Eine kulturell ermüdete Gesellschaft stört das wenig. Doch es muss uns zu denken geben.
Ich muss die Musik sein
Wer mit jungen Menschen spricht, wer ihre Sehnsucht kennt und ihre Erwartungen spürt, der weiss: Neugierig auf Kompetenzen sind sie nicht. Sie interessieren sich für ein menschliches Gegenüber, sie wollen ein vitales Vis-à-Vis, das sie weiterbringt und ihnen wichtige Inhalte und Werte vermittelt. Sie suchen jemanden, der sie wahrnimmt, der ihnen Resonanz ermöglicht und sie in Resonanz bringt, jemanden mit warmer Empathie, der auch Distanz wahrt und doch wohltuendes Interesse zeigt. Sie erhoffen sich ein Vorbild, suchen Sinn, wollen Inspiration. Lehrerinnen, Lehrer müssen vorleben, was sie verlangen. Oder, um es mit dem Dirigenten David Zinman zu sagen: „Ich muss die Musik sein, die ich von meinem Orchester hören will.“ Das sollte in jeder Lehrer-DNA stecken. Der Rest ergibt sich.
Doch der Zeitgeist favorisiert eine starke Selbststeuerung durch die Lernenden, verbunden mit einem radikalen Rückzug der Lehrpersonen auf „Begleitung“. Eine neue Lernkultur sieht die Lehrerin primär als Coach, den Lehrer als Lernbegleiter und Lern-Faciliator. Die moderne Didaktik propagiert das eigenverantwortliche Arbeiten und das Selbststudium. Lehrer werden didaktisch überflüssig, Lehrerinnen verschwinden. Mindestens im Pädagogenvokabular.
Keine Lehrperson „ohne Eigenschaften“
Eines wird in Gesprächen mit Jugendlichen deutlich: Junge Leute von heute wollen keine Servicekraft und keine gläserne (Gut-)Gestalt ohne Eigenschaften; sie wollen keine blutleere, identitätslose Figur, die ihnen einfach Papiere abgibt, Aufgaben verteilt und sich dann zurückzieht, die ihre Arbeiten durchwinkt und individuelles Lernen organisiert, weil das bequemer ist – und methodisch zeitgemäss.
Junge Menschen wollen auch keine Lehrkraft, die gönnerhaft auf Unterricht verzichtet und Lernen ohne Lehrer (LOL) praktiziert, die ihr Wirken auf schülerorientiertes Lernen (SOL) oder eben „stille Selbstbeschäftigung“ reduziert, die Methoden vor Inhalte setzt und lediglich Kompetenzen verwaltet.
Ein junger Studierender fasste es so zusammen: „Ich möchte geführt werden, aber nicht bevormundet, und ich möchte mich entfalten, aber nicht zurechtfalten. Ich muss die Lehrer spüren.“
Unterricht als ein „Meeting of minds“
Gute Lehrerinnen, pflichtbewusste Lehrer treten mit den Lernenden in persönlichen Dialog und Diskurs. Sie wissen: Dissenserfahrungen sind existenziell. Lernen erfolgt auch am Widerstand. Solchen Lehrpersonen ist eines klar: Junge Menschen wollen nicht einfach bestätigt werden in dem, was sie schon sind und haben. Sie wollen herausgefordert werden und auf Widerspruch stossen. Aber auf eine Art von Widersprechen, die sie ergreift und bewegt und ernst nimmt. Und nicht à la Klum und Bohlen.
In die Schule und ins Studium kommt heute eine Generation, die viel Zeit mit dem Handy und am Computer verbringt. Sie kennt kaum etwas anderes. Und wer Wirklichkeiten wahrnimmt, der erkennt schnell: Ein gewisser Narzissmus beherrscht die digitale Kommunikation. Sie ist nur bedingt ein dialogisches Medium. Im Gegenteil. Der Mausklick ersetzt den Diskurs. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Die Fähigkeit zum Dialog, die Fähigkeit zum Anderen, ja zum Zuhören wird kleiner. Die dialogische Bindungsstärke schwindet, die Selfie-Sucht nimmt zu, die Vereinzelung verstärkt sich. Socius weicht solus, resümiert der Berliner Philosoph und Essayist Byung-Chul Han.
Zwischenzeiten sind Handy-Zeiten
Man schaue sich die schulischen Pausen an. Es ist still in den Zwischenzeiten. Das Lachen ist ausgezogen, das Spielen verschwunden, das diskursive Gespräch selten geworden. In den Pausen wird gegooglet, das iPhone auf Nachrichten überprüft, einsam auf das MacBook gestarrt. Jede und jeder für sich. Doch aus den Egos ist ein Wir zu bilden. Das verlangt die Berufswelt, das erfordert das soziale Miteinander, das gebietet der gesellschaftliche Zusammenhalt.
Schulisches Lernen ist Beziehungsgeschehen, ist soziale Interaktion, ist Resonanz. Das Andere muss mir als Anderes entgegentreten. Gerade darum stellt sich eine Aufgabe immer konkreter: In Zeiten flinker Tastenklicks und schöner Oberflächen braucht es eine gegenhaltende Kraft, eine Form von Gegenwelt, die Lernende aus ihrer Eigenwelt holt. Die Generation WhatsApp braucht ein interessiertes und menschliches Du. So wie es der Religionsphilosoph Martin Buber eindrücklich formuliert hat.
Dem „Ich“ ein Gegenüber sein
Die Neurobiologie bestätigt Bubers Postulat. Jedes Werden braucht ein Du. Das Ich benötigt einen Gegenpol, jemanden, der Erwartungen formuliert, der Ziele setzt und konfrontieren kann. „Am meisten gelernt habe ich von Lehrkräften, die an mich hohe Erwartungen stellten“, schrieb mir ein Student. Und er fügte bei: „[…] die mir widersprachen, mir aber vertrauten und an mich glaubten.“
Solche Lehrerinnen, solche Ausbildner verkörpern etwas von Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik: Abstand gewinnen vom Ich, weil ein „Du“ die Aufgabe übernimmt, dem „Ich“ ein Gegenüber zu sein. Sie tun dies in aristotelischer Art: freundlich und konsequent, aufrichtig und klar. Es sind Lehrerinnen und Lehrer, die zielgerichtete Unerbittlichkeit mit mitmenschlichem Einfühlungsvermögen verbinden, die humanistische Grundverpflichtung mit unnachgiebigem Detailziehen kombinieren. Solche Lehrer haben mich am meisten geprägt. Für mein ganzes Leben.
Lehrpersonen als Expeditionsleiter ins Leben
Junge Menschen müssen ein Ich werden, ein freies Selbst, Autoren ihres Lebens. Sie brauchen darum Vorbilder, sie brauchen engagierte Lehrerinnen, sie wollen vital präsente Lehrer. Personen, die sie einerseits ernst nehmen und wertschätzen, weil sie Werte vertreten, die anderseits den Diskurs und Dissens wagen und dies klar und offen kommunizieren.
Solche Ausbildner sind Vorbilder. Doch andere als Klum und Bohlen. Sie sind – negativ formuliert – keine Puppenspieler, die Fäden ziehen, Arbeitspapiere verteilen und Kompetenzen verwalten, nein, sie sind Expeditionsleiterinnen, sozusagen Chauffeure ins Leben. Sie befähigen junge Menschen, Dinge zu leisten, von denen sie niemals glauben, dass sie sie erzielen können.
Orientiert an den Möglichkeiten
Es ist das „alte Wahre“ von Goethe: In Wilhelm Meisters Lehrjahre sagte er sinngemäss: Wenn wir die Menschen so nehmen, wie sie sind, bleiben sie stehen. Wenn wir sie aber so nehmen, wie sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wie sie sein können – nämlich zu ihren Möglichkeiten.
In die heutige Sprache übersetzt: Natürlich müssen Lehrpersonen junge Menschen mögen, sonst haben sie den Beruf verfehlt. Aber nicht partout in ihrer aktuellen Form, in ihren momentanen Launen – eher in ihrer Möglichkeitsform. Die Entwicklung von Möglichkeiten aber ist pädagogische Arbeit, nicht immer Spass. Damit junge Menschen diese Arbeit auf sich nehmen, brauchen sie ein Zugpferd, den attraktiven Lehrer, die vife Dozentin. Gerade darum taugen sie zum Idol.