Fragen der Moral bewegen die Öffentlichkeit immer wieder. So erregte sie sich zum Beispiel über die Offshore-Geschäfte, die Bundesrat Johann Schneider-Ammann vor seinem Ministeramt als damaliger Chef der Ammann-Gruppe zum Zweck des Steuernsparens getätigt hatte.
Als sich erwies, dass die Sache rechtlich wahrscheinlich nicht zu beanstanden ist, wollte die Empörung sich trotzdem nicht legen. Schneider-Ammanns Verhalten, so hiess es nun, sei vielleicht legal, aber eben nicht legitim gewesen – moralisch verwerflich also. Bei manchen Kritikern lautete das Verdikt, mangels der geforderten moralischen Sauberkeit sei Schneider-Ammann als Regierungsmitglied und Repräsentant des Landes fehl am Platz.
Empörung in den Medien
Der Fall ist typisch für eine öffentliche Sphäre, in der neben den herkömmlichen Medien zunehmend auch Social Media als Taktgeber funktionieren. Letztere können in oft unberechenbarer Weise als Initialzündung oder zumindest als Brandbeschleuniger für Erhitzungen und Knalleffekte sorgen.
Johann Schneider-Ammann scheint noch vergleichsweise glimpflich davongekommen zu sein. Andere gerieten richtig ins Feuer: Uli Hoeness, Christian Wulff, Alice Schwarzer, Theo Sommer und Sebastian Edathy zogen die geballte Wut und Häme einer erregten Medienöffentlichkeit auf sich. Die Fälle sind allerdings trotz ähnlicher Auswirkungen recht verschieden.
Bemerkenswert an der moralischen Aburteilung Wulffs erscheint, dass er nach heutigem Stand als juristisch Freigesprochener zu gelten hat. Bei Alice Schwarzer war die Verfehlung, eine Steuerhinterziehung grösseren Umfangs, sogar von ihr selbst bereits durch Selbstanzeige und Nachzahlung rechtlich geregelt, bevor durch eine offenbar behördliche Denunziation der mediale Sturm losbrach. Bei Sebastian Edathy wurden Nacktbilder von Kindern gefunden, aber keine verbotene Kinderpornografie. Die Aburteilung stützte sich auf das Argument, wer solches Material besitze, bei dem müsse es auch härteren Stoff geben oder gegeben haben.
Zielobjekte der Moral
Moral und Unmoral sind dehnbare, schwammige Begriffe. Gerade deshalb sind sie hochwirksame Ingredienzen fürs Zusammenbrauen jenes knalligen Stoffs, den das Publikum – und zwar durchaus nicht nur die Klientel der einschlägigen Boulevardblätter und Trash-TVs – so heiss liebt. Für die Medien geht die Rechnung mit Sicherheit auf, während für die Betroffenen das unbarmherzige semper aliquid haeret gilt, zu Deutsch: etwas bleibt immer hängen.
Bevorzugt ergehen mediale Anklagen gegen die Unmoral bekannter, exponierter oder auf der gesellschaftlichen Stufenleiter hoch positionierter Personen. Bundesrätinnen, Konzernchefs, Parteiobere, Sportidole, Meinungsmacher, Schöne und Reiche aus dem Showbizz bis hin zur Cervelat-Prominenz: Sie alle sind potentielle Zielobjekte der ständig schlummernden moralischen Empörungsbereitschaft.
Vermischung von Moral und Recht
Der prominente Theologe Friedrich Wilhelm Graf hat sich am 20. Februar im deutschen Wochenblatt «Die Zeit» mit dem öffentlichen Moralisieren auseinandergesetzt. Er stellt fest, dass immer wieder Moral und Recht unzulässig vermischt werden. Die Empörten rufen regelmässig nach rechtlichen Konsequenzen oder nach schärferen Gesetzen, auch wenn die kritisierten Handlungen oder Fakten entweder rechtlich unerheblich oder bereits bereinigt sind.
Gäbe man dem Druck derer nach, die sich rechtschaffen empört fühlen, so würde das Recht überdehnt, es würde über seinen Sinn und Geltungsbereich hinausgedrängt. Angesichts dieser Tendenz ist es wichtig, die Grenzen des Rechts in Erinnerung zu rufen. Rechtssicherheit gibt es nur, wenn die Gesetze einzig auf genau das angewandt werden, wofür sie gemacht wurden – und nicht nach diffusem moralischem Rechtsempfinden auch noch in anderen Situationen.
Das als Grund öffentlicher Aufwallungen oft genannte «moralische Empfinden» tut sich notorisch schwer mit dem Grundgedanken des Rechts. Dieses beruht darauf, dass Vergehen gegen das Gesetz nach strengen rechtlichen Standards bearbeitet werden. Ist ein Sachverhalt gerichtlich geklärt und mit Strafe oder Freispruch erledigt, so hat er als überwunden zu gelten. Mit diesem Prozedere vermag die Justiz einen gestörten Rechtsfrieden wieder herzustellen – eine grosse zivilisatorische Leistung, die das Prinzip der Rache ablöste.
Hang zur Unbarmherzigkeit
Demgegenüber hat Moral, wenn sie sich zur Stimme eines Kollektivs macht, einen Hang zur Unbarmherzigkeit. Sie neigt dazu, Verfehlungen zum unabänderlichen Makel zu verfestigen. Öffentliche Verurteilungen und Exekutionen sind ausserdem blind dafür, dass jeder Mensch moralisch ambivalent und sich selber in dieser Hinsicht nicht völlig transparent ist. Niemand weiss genau, welcher Verfehlungen sie oder er fähig sein könnte.
Im Zuge öffentlicher Aburteilungen unmoralischer Praktiken wird stereotyp die Forderung nach strengeren sittlichen Standards von Politik und Recht laut. Setzte sie sich durch, so wären die Liberalität der modernen Gesellschaft und die Grundsätze des Rechtsstaats bedroht. Würde von Staats wegen Moral verordnet, das Ergebnis wäre nicht eine moralischere Gesellschaft, sondern bigotter Tugendterror.
Nicht individuell, sondern persönlich
Moral gehört nach Graf in die persönliche Sphäre als Bemühen, sich nach ethischen, mit dem Wohl aller verträglichen Grundsätzen zu verhalten. Die Unterscheidung zwischen persönlich und individuell ist hier wichtig. Der Begriff Individuum betont das Für-sich-Sein, während Person immer den Menschen in Beziehung zu anderen meint.
Wäre Moral individuell, so ginge sie niemand anderen etwas an. Jedermann könnte sich auf seine ur-eigene individuelle Moral berufen, für die er keine Rechenschaft schuldet. Da sie aber persönlich ist, gehört Moral ins Feld des sozialen Zusammenlebens, und man eignet sie sich an in Prozessen der Erziehung und Persönlichkeitsbildung, der Anschauung aussagekräftiger Fälle, der Orientierung an Vorbildern, des Disputs und des nie endenden Lernens.
Die Begriffe Moral und Ethik lassen sich nicht zuverlässig unterscheiden. Oft werden sie synonym gebraucht. In der wissenschaftlichen Terminologie gibt es ein Bestreben, Moral für die persönliche Orientierung im konkreten Handeln und Ethik für die verallgemeinernde Reflexionsebene zu reservieren. Doch diese Differenzierung hat sich nicht allgemein durchgesetzt.
Moralische Urteile unter Vorbehalt
Die eng an die persönliche Sphäre gebundene Moral ist, weil von allgemeinen Werten und Leitbildern bestimmt, immer auch Thema und Agens der öffentlichen Kommunikation. Das Interesse der Medien an Moral (und sei es auch in Gestalt ihrer Negation, der publikumswirksamen Unmoral) ist selbstverständlich legitim. Aber sie kann nur sachgemäss verhandelt werden im Bewusstsein, dass Moral die Angelegenheit realer und einmaliger Personen ist. Sie «gehört» ihnen in dem Sinn, dass es von aussen gesehen in der Moral eines Menschen niemals restlose Klarheit gibt – ja sogar inbezug auf sich selbst ist ein abschliessendes moralisches Urteil nicht möglich.
Der Theologe Graf erinnert in diesem Zusammenhang an das christliche Verständnis, wonach nur Gott endgültige Urteile über Menschen fällen kann. Diese Lehre stellt jegliche Moral unter einen absoluten Vorbehalt. Dessen Respektierung entlastet Individuen und Gesellschaft von der Anmassung, gegenüber sich selbst und anderen den totalen Durchblick bezüglich der Moral von Motiven, Absichten und Handlungen zu haben.
Vielzahl moralischer Kriterien
Trotzdem: Im Gegensatz zu Justizia ist die Moral nicht etwa idealerweise blind. Vielmehr berücksichtigt sie in jedem Kasus die davon berührten Werte, Personen und gesellschaftlichen Institutionen. Moral wägt mit offenen Augen ab, diskutiert, räsoniert, stellt Fragen, lässt sich belehren. Greifen wir zur Illustration nochmals auf den Fall Schneider-Ammann zurück. Hier dürften etwa folgende Fragen auf den Tisch gehören:
- Verstiessen die von Johann Schneider-Ammann zu verantwortenden Steuersparpraktiken gegen Gesetze und Vorschriften? (Kriterium Gesetzestreue)
- Wurden Steuerschlupflöcher in einer Weise ausgenützt, die offensichtlich gegen den Sinn (wenn auch vielleicht nicht gegen den Buchstaben) des Gesetzes verstösst? (Kriterium Gutwilligkeit)
- Wurde der Staat durch entgangene Steuereinnahmen geschädigt? (Kriterium Pflichterfüllung)
- Laufen solche komplizierten Steuervermeidungspraktiken auf eine stossende Rechtsungleichheit hinaus, weil wegen des damit verbundenen Aufwands nur grössere Unternehmen sie sich leisten können? (Kriterium Chancengleichheit)
- Hat Schneider-Ammann mit den Steuereinsparungen einen persönlichen Vorteil, bzw. Zusatzgewinne für die Eigentümer des Unternehmens angestrebt? (Kriterium Lauterkeit)
- Gehörte es zur Verantwortung als Unternehmensführer, solche Steuersparmöglichkeiten zu nutzen, um die Ammann-Gruppe wettbewerbsfähig zu halten? (Kriterium Verantwortlichkeit)
- War das Vorgehen der Ammann-Gruppe gegenüber den Steuerbehörden jederzeit transparent? (Kriterium Offenheit)
- Waren die Steuersparpraktiken im Interesse der Arbeitnehmer, der Wirtschaftsregion, des Staats? (Kriterium Nützlichkeit)
- Sind die Praktiken des Unternehmers Schneider-Ammann und die Äusserungen des Politikers Schneider-Ammann kongruent? (Kriterium Glaubwürdigkeit)
- Wurde die politische Handlungsfähigkeit des Wirtschaftsministers Schneider-Ammann beschädigt? (Kriterium Vertrauenswürdigkeit)
Die Liste kann sicherlich verlängert werden. Sie soll lediglich illustrieren, in was für Beziehungen und Abhängigkeiten ein moralisches Abwägen bei einem Fall wie diesem zu geschehen hat. Die öffentliche Be- oder Verurteilung begnügte sich indessen oft mit einem einzigen Gesichtspunkt; schwang sie sich zur Beachtung von zwei oder gar drei Punkten auf, so konnte sie schon als vergleichsweise differenziert gelten.
Gefahr der Instrumentalisierung
Moral wird durch ihre mediale Verhandlung «politisch», wenn Fragen des persönlichen Verhaltens öffentliches Thema werden. Sie ist es ganz direkt, wenn es um Verhaltensweisen in der Politik geht. So ganz von der Politik trennen lässt sich Moral wohl nur selten – jedenfalls gilt das für diejenigen moralischen Fragen, die überhaupt offen zur Diskussion kommen. Diese genuine Verquickung mit dem im weitesten Sinn politischen Feld trägt dazu bei, dass Moral faktisch oft als Waffe im Konkurrenzkampf dient.
Missbräuchliche Instrumentalisierung liegt also immer gefährlich nahe. Moral steht oft in fremden Diensten, und wo das geschieht, wird vielleicht moralisiert, aber gewiss nicht ernsthaft nach moralischer Legitimation gefragt.