Die Frage, warum Kriege geführt werden, wird heute zumeist negativ beantwortet. Zumindest in den westlichen Gesellschaften gibt es eine tiefe Aversion gegen kriegerische Gewalt. Diese Aversion hängt mit den Erfahrungen der jüngeren Geschichte zusammen.
Im Rückblick erscheinen diese Kriege als sinnlose Gemetzel. Und als Ursachen gegenwärtiger Kriege werden politisches Versagen, der unselige Einfluss der Rüstungsindustrie und ihrer Lobbys sowie das Treiben der Geheimdienste angesehen. Lange Zeit galt auch der Grundsatz, dass demokratisch verfasste Gesellschaften keine Kriege gegeneinander führen.
Weg zur dominanten Macht
Die Studie von Michael Sommer öffnet den Blick dafür, dass Kriege weitaus komplexere Ursachen haben können, als sie in der heutigen Zeit vor Augen liegen. Die drei Kriege zwischen Rom und Karthago, die sich über mehr als ein Jahrhundert hinzogen, sind keine Geschehnisse einer grauen Vorzeit, die für die Gegenwart ohne Interesse wäre. Vielmehr zeigt Michael Sommer, dass sich die politischen Systeme Roms, aber auch die seiner Rivalen im Verlauf der Auseinandersetzungen immer weiter differenzierten, was die Entscheidungsprozesse zunehmend komplexer und interessanter machte.
Eine der Leitfragen Sommers bezieht sich darauf, wie Rom es schaffte, sich im Laufe der Zeit zur dominierenden Macht zu entwickeln. Entscheidend ist dabei die Art der politischen Willensbildung. Seit 509 v. Chr. war Rom eine Republik, in der die Bürger auf politische Entscheidungen Einfluss hatten. Regiert wurde diese Republik von einer streng abgegrenzten Schicht der Aristokraten, aus denen die Konsuln hervorgingen. Die Auswahlprozesse dafür waren komplex, und wer Konsul werden wollte, musste sich im Krieg bewähren und auch den Massen damit verbundene materielle Vorteile bieten.
Schonung der Besiegten
Dazu verfolgte Rom eine Taktik, die sich im Verlauf der Kriege mehr und mehr auszahlte: Die Besiegten wurde nicht niedergemetzelt oder grausam unterjocht, sondern geschont und auf diese Weise zu potentiellen Stützen der Republik gemacht. Auf diese Weise konnte Rom sein Heer auffüllen beziehungsweise Söldner rekrutieren.
Die Geschichte Roms und seiner Kriege ist seit der Antike wieder und wieder erzählt worden. Michael Sommer stützt sich auf diese Quellen und erklärt bei mehreren möglichen Deutungen der Ereignisse, warum er die eine Erklärung für plausibler hält als eine andere. Und er zeigt, wie die Protagonisten bei ihren Entscheidungen ihre Karriere- und materiellen Gewinnchancen abwogen. In seinen Darlegungen gelingt Sommer ein Kunststück: Er schildert die Entscheidungsprozesse so lebendig und anschaulich, wie es die Leser heute von der aktuellen politischen Berichterstattung kennen. Das ist keine modische Attitüde, sondern erwächst aus dem genauen Quellenstudium und den gründlichen Analysen. Dazu verfügt Sommer über die Gabe des Erzählens.
In heutigen politischen und soziologischen Analysen wird oft betont, dass sehr viele Entscheidungen unter Bedingungen unzureichenden Wissens und der damit verbundenen Unsicherheit stehen. Sommer erzählt nun, wie viele Unternehmungen schlicht und einfach daran scheiterten, dass man die lokalen Bedingungen, die Konstellationen feindlicher Truppen, aber auch schon die Absichten des Gegners falsch eingeschätzt hatte. In der Antike brauchte jede Aktion viel Zeit, aber es ist immer wieder erstaunlich, wie raumgreifend und über wie grosse Distanzen strategisch gedacht und militärisch gehandelt wurde.
Hannibal
Eines der spektakulärsten militärischen Unternehmen der Antike war Hannibals Überquerung der Alpen im Jahr 218 v. Chr.. Das Heer von Hannibal setzte sich von Neukarthago auf der iberischen Halbinsel in Marsch, bestand aus 90’000 Fusssoldaten und 12’000 Mann Kavallerie. Dazu kamen 40 Kriegselefanten. Eine grössere Schwierigkeit gab es schon an der Rhône: Wie sollten die Dickhäuter über den Fluss gebracht werden? Für die Soldaten und Rösser wurden Boote gekauft und gebaut, und nach einigen Versuchen gelang es, die Elefanten mittels einer Brückenkonstruktion, die aus Flössen errichtet war, «trockenen Fusses» über den Fluss zu bringen.
Wie ungeheuer strapaziös die langen Märsche und erst recht die Überquerung der Alpen waren, lässt sich an den Zahlen ablesen: Das Heer zählte noch 20’000 Mann zu Fuss und 6’000 Reiter. Dazu muss man sagen, dass es schon auf dem Marsch bis zur Rhône deutliche Verluste gegeben hatte, die mit Kämpfen, aber auch mit Desertionen zusammenhingen.
Was aber bezweckte Hannibal mit diesem ganzen Unternehmen? Er verzichtete darauf, Rom direkt anzugreifen. Statt dessen hielt er sich mit seinem Heer zunächst in der Poebene auf und zog dann in die Nähe des Trasimenischen Sees, wobei es zu mehreren Schlachten kam. Letzten Endes aber konnte Hannibal seine Truppen nicht ernähren und trat den Rückzug an.
Wenig Anschauung
Michael Sommer schildert diese Ereignisse mit den unterschiedlichen Charakteren der römischen Konsuln und Feldherren einerseits fesselnd, aber gerade hier zeigt sich ein Defizit. Denn insgesamt wünschte man sich mehr Auskunft über die Bewaffnung der Heere, die Kampfmethoden oder die Versorgung der Verwundeten. Es fehlen auch Beschreibungen des täglichen Lebens. Wie haben sich die Menschen ernährt, was bedeuteten die wiederholten Besetzungen und Plünderungen durch die mannigfaltigen Heere? An einer Stelle zeigt Sommer die Abbildung eines antiken Kampfschiffes, einer Quinquereme aus dem 3. Jahrhundert. In der Erläuterung zeigt sich Sommer zurückhaltend, aber bei der Bedeutung, die in seiner Darstellung gerade die Seeschlachten einnehmen, wüsste man gern etwas mehr über die damaligen Kriegsflotten und ihre Besatzungen.
Die drei punischen Kriege endeten mit der völligen Vernichtung Karthagos 146 v. Chr. «Siebzehn Tage soll Karthago gebrannt haben. Die Stadt wurde vollständig zerstört, ihre Stätte verflucht. Die überlebenden Bewohner wurden in die Sklaverei verkauft.» Der Feldherr Scipio soll geweint haben, als er das Vernichtungswerk miterlebte, das er selber angeordnet hatte. Was aber war es, was Rom letzten Endes über seine Widersacher triumphieren liess?
Roms Tugend
Zentraler Erfolgsfaktor ist für Michael Sommer die «römische Elite» mit ihrem «bewundernswürdigen Spagat zwischen hypertropher Konkurrenz und erstaunlicher Kohäsion». Feindlichen Mächten gegenüber schloss sich die Elite nicht nur zusammen, sondern sie sah in den Kriegen «Bewährungsräume», in denen sie sich für Führungsämter qualifizieren konnte. Hier wurde die Tugend, Virtus, eingeübt und bewährt. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht in diesem Zusammenhang vom Heroischen der Kriege, was in unseren Gesellschaften völlig verloren gegangen ist.
Aber auch die Bürgerschaft Roms verfügte über Virtus. Die zeigte sich in der Fähigkeit, «sich im Zweifel als Einzelner den Bedürfnissen der Vielen unterzuordnen.» Diese Bedürfnisse und Interessen konnten auch materieller Natur sein. Manche Entscheidung wurde dadurch beeinflusst, dass die Konsuln für ihre Kriegsmandate reiche Beute in Aussicht stellten.
Die Beschäftigung mit den Punischen Kriegen und der erstaunlichen Dynamik des Mittelmeerraumes im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. ist nicht nur etwas für «Antike-Enthusiasten», wie Sommer schreibt. Seine Schilderungen von Entscheidungsprozessen und Kriegsverläufen bieten Einblicke, die einerseits Parallelen zur Gegenwart aufweisen, zum anderen aber starke Kontraste bilden. So wird klar, warum wir, wie Herfried Münkler diagnostiziert, in einer «postheroischen» Gesellschaft leben.
Michael Sommer: «Schwarze Tage». Roms Kriege gegen Karthago. C. München: H. Beck Verlag, 2021, 368 Seiten, ca. 26,95 Euro