Gemäss dem renommierten Statistiker und Demoskopen Nate Silver führt Joe Biden am Vortag der Wahlen auf nationaler Ebene (alle Stimmen aller Bundesstaaten zusammengenommen) deutlich. Biden kommt demnach auf 52,0 Prozent aller Stimmen, Trump auf 43,5 Prozent (Differenz: 8,5 Prozent). Vor zwei Wochen hatte Bidens Vorsprung noch 10,5 Prozent betragen.
Auch „Real Clear Politics“, ein angesehener Umfrage-Aggregator, sieht Biden landesweit klar vorn. Das Unternehmen errechnet Durchschnittswerte zahlreicher Umfragen und gewichtet sie.
Es kann davon ausgegangen werden, dass Biden auf nationaler Ebene mehr Stimmen erhalten wird als Trump. Schon Hillary Clinton erzielte knapp 3 Millionen Stimmen mehr als der jetzige Präsident.
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„Electoral College“
Doch entscheidend für die Wahl ist nicht das landesweite gesamthafte Ergebnis, sondern die Resultate in den einzelnen 50 Bundesstaaten.
Der amerikanische Präsident wird nicht vom Volk direkt gewählt, sondern vom „Electoral College“, und zwar 41 Tage nach der Wahl, also Mitte Dezember.
„Winner-Take-All“
Das Electoral College setzt sich aus den Wahlmännern und Wahlfrauen zusammen, die am Wahltag vom Volk in den einzelnen Bundesstaaten bestimmt werden. Jeder Bundesstaat verfügt über so viele Wahlmänner/Wahlfrauen (Elektoren) wie er Abgeordnete im Washingtoner Kongress hat.
In 48 der 50 amerikanischen Bundesstaaten gilt das Prinzip „Winner-Take-All“. Das heisst: Dem Kandidaten, der in einem Bundesstaat (relativ) am meisten Stimmen erhält, werden alle Wahlleute des Bundesstaates zuerkannt.
Einzig im Mittelwest-Staat Nebraska und im Neuengland-Staat Maine gilt eine besondere Regelung. Nebraska verfügt über 5 Wahlleute, Maine über 3. Diese können, je nach Ergebnis, auf die Kandidaten aufgeteilt werden. Trump gewann in Nebraska alle 5 Elektoren der 3 Distrikte. In Maine gewann Clinton 3 Elektoren und Trump 1.
Magische Zahl: 270
Insgesamt besteht das Electoral College aus 538 Wahlleuten. Ein Kandidat muss also mindestens 270 Wahlleute hinter sich haben, um gewählt zu werden (538 : 2 +1). Trump gewann 304 der 538 Wahlleute.
Biden kann jetzt gemäss Umfragen „sicher“ oder „eher sicher“ mit 216 Wahlleuten rechnen, Trump mit 125. Offen ist das Rennen um 197 Elektorenstimmen in 14 Staaten: den „Battleground“- oder Swing-Staaten.
Spannend wird es in Pennsylvania, Wisconsin, Michigan, Iowa, Florida, Ohio, North Carolina, Minnesota, Nevada, Arizona, Nebraksa, Georgia, Texas und im 2. Distrikt von Maine.
Die Demokraten hoffen auf den „Rust belt“
Die Demokraten rechnen sich Chancen aus, die „Rust belt“-Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin zu gewinnen. In diesen drei Staaten gewann Trump vor vier Jahren mit äusserst knapper Mehrheit: In Michigan mit einem Vorsprung von 0,3 Prozent, in Wisconsin und Pennsylvania mit +0,7 Prozent. Zusammen stellen die drei Staaten 46 Elektoren.
Die Augen richten sich vor allem auf Pennsylvania. In diesem Staat, der zwischen New York und dem Erie-See liegt, könnten sich laut Nate Silver die amerikanischen Wahlen entscheiden. Pennsylvania verfügt über 20 Elektorenstimmen und ist damit ein Schwergewicht.
Biden führt in Pennsylvania, Michigan und Wisconsin
Gemäss den von Real Clear Politics am Montag veröffentlichten Durchschnittswerten liegt Biden in Pennsylvania mit 4,3 Prozent vor Trump.
In Michigan kommt Biden laut letzter Prognose auf 5,1 Prozent mehr als Trump und in Wisconsin sind es 6,6 Prozent mehr.
Die Meinungsforscher geben an, dass die Fehlermarge ihrer Umfragen bis zu +/- 4 Prozent betragen kann. Die Ergebnisse in Pennsylvania, Michigan und Wisconsin liegen also deutlich über der möglichen Fehlerquote. Vor vier Jahren hatten die Umfrage-Institute Hillary Clinton weit weniger gute Prognosen gestellt als jetzt Biden.
Wenig aussagekräftige Prognosen für andere Staaten
Im Gegensatz zu den Voraussagen für Pennsylvania, Michigan und Wisconsin sind die Prognosen für andere umstrittene Staaten wenig aussagekräftig.
Florida: Trump gewann 2016 mit einem Plus von 1,2 Prozent. Jetzt, am Tag vor der Wahl, liegt Biden mit 1,2 Prozent vorn.
Ohio: Trump erreichte 2016 8,1 Prozent mehr als Clinton. Jetzt liegt Trump mit 0,2 Prozent vorn.
North Carolina gewann Trump 2016 mit +3,7 Prozent. Jetzt liegt Biden mit 0,3 Prozent vorn.
In Georgia siegte Trump vor vier Jahren mit +5,1 Prozent. Jetzt liegt Biden mit 0,4 Prozent vorn.
In Arizona siegte Trump mit 3,5 Prozent. Jetzt liegt Biden mit 1,2 Prozent vorn.
In Texas gewann Trump mit 9,0 Prozent. Jetzt liegt er mit nur noch 1,2 Prozent vorn.
In Iowa lag Trump 2016 mit 9,5 Prozent vorn. Jetzt hat er noch ein Plus von 0,7 Prozent.
Diese Prognosen liegen klar innerhalb der normalen Fehlermarge von +/- 4 Prozent. In diesen Staaten ist also alles möglich.
Liegt Trump besser im Rennen als prophezeit?
CNN schreckte am Sonntagabend die Demokraten auf. Eine neue „Selzer“-Umfrage gibt Trump im Swing-Staat Iowa einen Vorsprung auf Biden von 48 zu 41 Prozent. Das ist klar mehr als die übrigen Umfragen prophezeien. „Wenn diese Selzer-Umfrage richtig ist“, schreibt CNN, „ist Trump in einer weitaus besseren Position als angenommen, und es könnte uns ein viel engeres Rennen bevorstehen, als viele erwarten.“
Es geht nicht nur um Iowa. Die Demokraten müssten, falls die Umfrage stimmt, besorgt sein, dass es auch in anderen Staaten nicht besser geht. Selzer hatte schon vor vier Jahren, entgegen den Prognosen aller anderen Institute, einen Sieg Trumps in Iowa vorausgesagt.
Die „hidden Trump voters“
Eine grosse Unbekannte sind jene Wählerinnen und Wähler, die die Meinungsforscher belügen. Viele getrauen sich nicht, offen zu sagen, sie würden für Trump stimmen – und tun es dann trotzdem.
Das in Atlanta beheimatete Institut „Trafalgar Group“ will die „shy Trump voters“ besser zur Geltung kommen lassen. Das Institut fragt die Leute nicht nur, was sie selbst wählen, sondern, was sie denken, dass die Nachbarn wählen. So müssen sich die Leute nicht selbst zu Trump bekennen, sondern können das den Nachbarn in die Schuhe schieben. Bei den Umfragen der Trafalgar Group kommt Trump klar besser weg als bei anderen Instituten. So sieht Trafalgar in Michigan, North Carolina, Pennsylvania und Georgia einen Sieg Trumps voraus. Nate Silver bezeichnet die Trafalgar Group als wenig seriös.
89-prozentige Gewinnchance
Silver meldete am Montagmorgen, 30 Stunden vor Beginn der Wahlen: „Biden is favored to win the election.“ Nur wenn den Meinungsforschern „ein grosser Fehler (big polling error)“ unterlaufen wäre, erklärt Silver, hätte Trump noch eine Chance zu gewinnen.
Doch Silver fügt bei: „Trump mag der Underdog sein, doch grössere Umfrage-Fehler sind in der Vergangenheit tatsächlich vorgekommen.“ Diese Fehler müssten diesmal allerdings derart gross sein, dass es unwahrscheinlich ist, dass sie geschehen sind.
Biden habe eine 89-prozentige Chance, die Wahlen zu gewinnen. Sagt Nate Silver.
Quellen: NineThirtyFive, Real Clear Politics, CNN, New York Times, Associated Press, Washington Post
(J21/hh)