Nach der überraschenden Welle von Protestdemonstrationen, die die Verhaftung des Regimekritikers Alexei Nawalny am vergangenen Samstag in unzähligen Städten ausgelöst hat, kommentierte der Journalist Kirill Martinow in der oppositionellen Zeitung «Nowaja Gaseta», an diesem Tag, dem 23. Januar, habe sich die «Kontur einer neuen russischen Politik abgezeichnet». Bei allem Verständnis für die Genugtuung eines kritischen Geistes über den Erfolg des Protestaufrufs mutet diese optimistische Perspektive doch etwas voreilig an.
Frühere Aufwallungen sind versandet
Hat es in den letzten Jahren in Russland nicht verschiedene ähnliche Protestbewegungen gegeben? Erinnert sei nur an die Grossdemonstrationen in Moskau und St. Petersburg von 2011/12 gegen die manipulierte Dumawahl oder an eine Reihe kleinerer Manifestationen in der Hauptstadt und in einigen Provinzen für die Freilassung politischer Gefangener. Alle diese Aufwallungen sind mit dem Einsatz verschärfter Repression und der sich darauf ausbreitenden Resignation wieder versandet.
Der Kommentator Kirill Martinow ist realistisch genug, um nicht mit der schnellen oder gradlinigen Durchsetzung der von ihm prognostizierten «Kontur einer neuen russischen Politik» zu rechnen. Denn, so schreibt er weiter: Die landesweiten Solidaritätskundgebungen mit dem verhafteten Oppositionsführer Nawalny seien gleichzeitig auch «der Start des belarussischen Szenariums» für das Putin-Regime. Was damit gemeint ist, lässt sich unschwer nachvollziehen: Am Wochenende sind während oder nach den unbewilligten Kundgebungen von den Sicherheitskräften mindestens 3000 Menschen festgenommen worden.
Das alles gemahnt an die Vorgänge, die sich seit dem vergangenen August im Nachbarland Belarus abspielen. Dort protestieren fast an jedem Wochenende Tausende – am Anfang waren es Hunderttausende – von Bürgern gegen die vom Langzeitherrscher Lukaschenko offenkundig gefälschten Parlamentswahlen. Das Minsker Regime reagiert auf diese konsequent friedlichen Manifestationen mit rücksichtsloser Härte. Über 30’000 Personen sind seit dem August von martialisch gerüsteten Sicherheitskräften festgenommen und für kürzere oder längere Zeit in Gefängnisse geworfen worden.
Lukaschenko hält sich an der Macht
Lukaschenko hat sich mit diesem gewalttätigen Vorgehen in Europa zwar noch stärker als zuvor isoliert, doch ein Ende seiner Herrschaft ist bisher nicht abzusehen – zumindest so lange ihn sein Gesinnungsgenosse Putin in Moskau nicht fallen lässt und ihm die materielle Hilfe aufkündigt. Davon ist indessen nichts zu sehen, auch wenn das persönliche Verhältnis zwischen den beiden Potentaten nicht besonders brüderlich zu sein scheint.
Einiges spricht dafür, dass Putin die Absicht hat, mit der Nawalny-Herausforderung auf ähnliche Art fertig zu werden, wie Lukaschenko sie gegenüber der Protestbewegung in Belarus praktiziert: Verschärfte Unterdrückung und Vertrauen auf eine allmähliche Erschöpfung und Resignation unter den Nawalny-Sympathisanten. Ob diese Taktik, anders als im westlichen Nachbarland, schon in kurzer Frist Erfolge einbringen wird, wird sich schon am nächsten Samstag und den Wochen darauf abzeichnen. An diesem Tag sollen gemäss dem Aufruf des verhafteten Dissidentenführers und seiner Mitstreiter die Protestdemonstrationen fortgesetzt werden.
Hanebüchene Justizvorwürfe gegen Nawalny
Der Kreml hat bereits vorsorgliche Massnahmen getroffen, um die Wiederholung solcher Manifestationen nach Möglichkeit zu verhindern. So sollen laut einem Bericht des «Spiegels» soziale Medien, die die Aufrufe zu den Demonstrationen vom vergangenen Samstag verbreitet haben, mit Bussen zwischen umgerechnet 8’700 bis 43’000 Euro bestraft worden sein. Betroffen sind Netzwerke wie Instagram, Twitter, Tiktok, VKontakte (russisch), Odnoklassiki (russisch) und Youtube. Die Justiz beruft sich auf das Argument, dass solche Aufrufe an Minderjährige verboten seien.
Die Vorwürfe, die die vom Regime gegängelte Justiz gegen Nawalny auffährt, sind generell hanebüchen. Dem Kritiker, den Geheimdienstschergen während seines Aufenthaltes in Sibirien unzweifelhaft vergiften wollten und der nur durch eine (laut Putin von ihm bewilligte) Not-Evakuation nach Berlin gerettet werden konnte, wird als Straftat angekreidet, dass er sich nicht rechtzeitig bei den Behörden in Moskau gemeldet habe. Dazu wäre er aufgrund einer vor mehreren Jahren auf Bewährung erfolgten Verurteilung wegen angeblicher Unterschlagung verpflichtet gewesen. Der europäische Gerichtshof in Strassburg hat diese Verurteilung im Jahre 2017 als «willkürlich» bewertet und Russland zu einer finanziellen Kompensation an Nawalny aufgefordert. Diese Zahlung soll dann auch erfolgt sein.
Die sofortige Verhaftung Nawalnys nach seiner Rückkehr nach Moskau betrifft vorerst nur eine Frist von 30 Tagen. Danach soll möglicherweise ein neuer Prozess gegen den Regimekritiker inszeniert werden. Um welche Anklage es dabei gehen soll, ist unklar. Kein Zweifel besteht aber darin, dass die regimehörige Justiz jedes Urteil liefern wird, das Putin ihr vorgibt. Die bevorstehenden Entscheidungen der Gerichte werden deshalb auch ein Indiz dafür sein, wie der Kremlherr längerfristig auf die politische Provokation der Causa Nawalny reagieren wird.
100 Millionen Klicks für Nawalnys Palast-Video
Er könnte ihn, ähnlich wie im Fall des einst reichsten russischen Oligarchen Michail Chodorkowski, per Gerichtsverfahren für ein Jahrzehnt in einem Zwangsarbeitslager verschwinden lassen und gleichzeitig anordnen, Nawalnys dissidentes Netzwerk zu zerschlagen. Ob dieses letztere Ziel erreicht würde, wäre allerdings nicht garantiert, denn im Internetzeitalter lassen sich wohl immer Schlupflöcher für oppositionelle Kommunikation organisieren – jedenfalls unter den Anhängern Nawalnys, wo es offenbar viele digital smarte Profis gibt.
Vielleicht aber ist Putin weitsichtig genug, um im Fall Nawalny nicht einfach das brachiale «belarussische Szenarium» Lukaschenkos zu übernehmen. Als Alternative könnte er eine gewisse Flexibilität gegenüber dieser Herausforderung zeigen und Nawalnys Bewegung als oppositionellen Stachel bis zu einer gewissen Grenze tolerieren, wie das schon früher zeitweise geschehen ist. Das wäre für Putins Ruf im Ausland zweifellos nützlich und könnte ihm auch breitere Sympathien unter jenen zahlreichen Russen einbringen, die zurzeit sowohl Putins autoritärem Machtsystem als auch Nawalnys Persönlichkeit und Zielen misstrauen.
Der 44-jährige Nawalny ist unbestreitbar eine flamboyante Figur. Er hat mit seiner riskanten Rückkehr nach Russland atemraubenden Mut gezeigt und dem Publikum vor Augen geführt, dass er sich vor Putin nicht fürchtet. Seine Enthüllungsvideos über die Korruption in den obersten Machtzirkeln des Kremls sind eine technisch hochprofessionelle und überaus publikumswirksame Provokation. Laut Youtube-Zählung ist sein jüngster Video-Coup über «Putins Palast» am Schwarzen Meer bereits über 100 Millionen Mal aufgerufen worden.
Wem glauben die Russen?
Es mag sein, dass ein erheblicher Teil jener Russen, die sich den Streifen zu Gemüte geführt haben, dieses Schaustück für eine von Nawalny und seinen Mitarbeitern oder von amerikanischen oder deutschen Geheimdiensten fabrizierte Propaganda-Inszenierung halten. In diesem Sinne hat sich Putin selber schon über den Video-Renner geäussert.
Aber müsste sich der Kreml nicht auch vertiefte Gedanken über jene gewichtigen Segmente russischer Bürger machen, die trotz mancher Skepsis über Nawalnys Ziele und Gesinnung eher überzeugt sind, dass Putins pompöser Zaren-Palast am Schwarzen Meer keine blosse propagandistische Erfindung ist und seine Enthüllungen über die Kosten und die Ausdehnung dieser Luxusanlage durchaus auf konkreten Tatsachen beruhen? Von einer seriösen Auseinandersetzung auf Seiten der Machthaber mit Nawalnys aufwendig dokumentierten Korruptionsvorwürfen hat man bisher nichts gehört.
Wenn Putin sich darauf versteift, die Nawalny-Herausforderung ausschliesslich mit Lukaschenkos brachialem «belarussischem Szenarium» zu bekämpfen, läuft er Gefahr, am Ende als ein ähnlich isolierter und diskreditierter Machthaber dazustehen wie der Minsker Diktator.