Die beiden ersten industriellen Revolutionen brachten viel Mühsal, letztlich aber substanzielle Gewinne für eine Mehrheit der Menschen. Die dritte, die digitale, dürfte sich als selektiver erweisen. Dieser Ansicht ist der „Economist“ im Special Report: THE WORLD ECONOMY, publiziert am 4. Oktober 2014. Die nachfolgenden Thesen sind zum Teil diesem Dossier “Die dritte grosse Welle” entnommen. Natürlich ergänzt durch andere Quellen und Gedanken des Autors.
Die schöne Geschichte vom Schach und dem Reiskorn
Als der Mann das neue Spiel – genannt Schach – erfunden hatte, präsentierte er es stolz seinem König. Dieser, höchst beeindruckt, offerierte ihm eine selbst zu wählende Belohnung. Der Mann bittet um ein Reiskorn für das erste Feld des Schachbretts, zwei für das zweite, vier für das dritte, acht für das vierte und so weiter bis Feld 64. Der König, überrascht von dieser Bescheidenheit, gewährt ihm die Belohnung. Bald führt diese stetige Verdoppelung als Belohnung zur Ernte eines grossen Reisfelds, kurz darauf muss der König klein beigeben. Selbst seine immensen Reichtümer reichen nicht aus, um einen Reisberg in der Grösse des Mount Everests zu finanzieren.
Exponentielles Wachstum, mit anderen Worten, scheint negierbar, bis es plötzlich unkontrollierbar wird. Genau das passierte mit dem Fortschritt in ICT (Information and Communication Technology). Wir sind mittlerweile auf der zweiten Hälfte des Schachbretts angelangt. Jetzt explodieren Nutzen und Auswirkungen.
Intelligente Maschinen, "Internet der Dinge" usw.
Diese dritte Welle verspricht einen ähnlichen Mix aus sozialem Stress und wirtschaftlichen Veränderungen wie die beiden vorangegangenen. Es sind vor allem einige Technologien, die sie antreiben: Intelligente Maschinen, allgegenwärtiges Internet, 3D-Drucker, fortgeschrittene Robotertechnik. Letztere zeichnet verantwortlich für aussergewöhnliche Innovationen - unbemannte Fahrzeuge, ferngesteuerte Drohnen und Sprachübersetzermaschinen, die hunderte von Sprachen augenblicklich übersetzen.
Mit dem „Internet der Dinge“ läuft bereits eine weitere Entwicklungsstufe. Produktionsabläufe, Logistik, Wohn- und Büroräume, Fahrzeuge, Menschen – alles wird mit Sensoren ausgerüstet. Die gewonnenen Daten werden als Big Data ins globale IdD-Netz eingespiesen. Nutzer klinken sich dort ein, um mittels Analysesoftware und Algorithmen die Produktivität und Effizienz ihrer Betriebe gewaltig zu steigern.
Cloud Computing verringert laufend die Computerkosten für Kunden von Google und Amazon. Doch nicht nur die Computerleistung steigerte sich in wenigen Jahren gewaltig. Den Löwenanteil dieser Verbesserung lieferten effizientere Algorithmen. Beweise für den gewaltigen Fortschritt sind überall sichtbar. War es für Maschinen noch bis vor kurzem schwierig oder schlicht unmöglich, schriftlichen oder mündlichen Befehlen zu gehorchen, werden Maschinen nun rasch „intelligenter“.
Apple’s SIRI reagiert auf Sprechinstruktionen, es verarbeitet z.B. Diktate für E-mails oder Memos. Der Google-Übersetzer arbeitet mit „Lichtgeschwindigkeit“ und wird von Monat zu Monat akkurater.
Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen?
Die Auswirkungen dieser Revolution könnten desaströs sein. Noch ist es aber zu früh, um schwarz zu malen. Doch Ökonomen der Oxford University haben über 700 Berufe auf ihre Gefährdung durch Computer analysiert. Ihr Befund: 47 Prozent der Arbeitsplätze in den USA scheinen in höchstem Masse gefährdet, innerhalb von zwei Jahrzehnten wegrationalisiert zu werden. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen rechtzeitig durch Erhöhung ihrer Kompetenzen (Weiterbildung) darauf reagieren können.
Der Faktor „Arbeit“ wird also kontinuierlich gegenüber jenem, der „Kapital“ gernannt wird, verlieren. Auf einen Nenner gebracht: Der technologische Fortschritt vergrössert laufend das Reservoir an tiefqualifizierten Arbeitskräften und jenen Tätigkeiten, die automatisiert werden können. Traditionelle Arbeitnehmer sehen sich demnach immer drastischerem Konkurrenzdruck, sowohl gegenüber Mitbewerbern, also auch Maschinen ausgesetzt.
Neue Wirtschaftsmodelle
Das Modell der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Industrialisierung ist am Verblassen. Es war anfänglich noch mitgetragen gewesen von laufend sinkenden Transportkosten im 20. Jahrhundert. Die Welt „schrumpfte“ – wir nennen es Globalisierung. Seit 1980 übernahm ICT eine ständig steigende Bedeutung. Damit konnten Produktionsketten weltweit aufgebrochen und koordiniert werden, indem die Arbeitsmärkte für billigere, globale Produktionsalternativen geöffnet wurden (Produktionsauslagerung). Bekanntes Beispiel: Das iPhone wird in China zusammengesetzt, die Einzelteile werden dorthin angeliefert aus vielen Ländern der Welt. Verkauft wird es aus den USA.
Doch auch dieser Trend könnte von kurzer Dauer sein. Der Gesamtanteil der Herstellungskosten im weltweiten Handel ist von 83 (1980) auf 57 Prozent (2008) gesunken. Leider gibt es noch keine aktuelleren Zahlen, doch hat sich diese Verschiebung inzwischen noch verstärkt. Derweil steigt der Wertanteil des „wissens-intensiven“ Handels kontinuierlich, er betrug gemäss McKinsey Global Institute im Jahr 2012 bereits ungefähr die Hälfte aller gehandelten Produkte, Serviceleistungen und Finanzen.
Brooklyn als Beispiel
Am Beispiel Brooklyn (New York) lässt sich der Wandel eindrücklich verfolgen. Standen früher am Ufer des East Rivers graue, heruntergekommene industrielle Komplexe, sind dort zwischen Parkanlagen und Sportplätzen grosszügige Lofts in umgenutzten Lagerhäusern entstanden. Diese werden betreut von einer Hundertschaft von Bewirtschaftung-, Aufsichts- und Reinigungspersonal.
Daneben entwickeln sich in den alten Mauern prosperierende Tech-Industry-Hubs. Einer der Stars ist momentan Etsy, der virtuelle Marktplatz, dessen Personalbestand sich laufend erhöht. Über die Internetplattform vertreibt Etsy global handwerkliche Produkte produziert von kreativen Einzelpersonen verstreut über die ganze Welt. Der Umsatz steigt jährlich um ca. 50 Prozent. 2013 erreichte er 1.35 Milliarden Dollar.
Etsy ist Teil einer breiten Bewegung, die eine unternehmerische Antwort auf die veränderten Wirtschaftsansprüche bereithält. Sie ersetzt einerseits althergebrachte Inserateverkäufe, Flohmärkte und Brockenhäuser. Andererseits sind es vor allem neue Trendprodukte, die grossen Absatz generieren. In einem gewissen Sinne ist dieser Bereich e-entrepreuneurship und Google’s app-economy zuzurechnen.
Umbrüche im Bildungsbereich
Eine weitere wirtschaftliche Erneuerungsbewegung wird durch mobile Apps und Netzwerke die Demokratisierung des traditionellen Kapitalismus vorantreiben. Die Share Economy ist ihr wichtigster Trend (beschrieben im journal21 am 7.12.2014).
Auch im Bildungswesen steht eine dramatische Umschichtung an. Immer mehr Hochschulen stellen akademische Lehrgänge gratis oder für wenig Geld ins Internet. Motivierte Lernbegeisterte können die Chance packen und für den Preis eines PC’s und des Internetzugangs Universitäts-Abschlüsse erlangen und so viel Geld sparen.
Diese Entwicklung wird zum Prüfstein für Regierungen dieser Welt. Ob sie überhaupt realisieren, was abläuft, bevor sie überrascht werden? Zweifellos zeichnen sich grosse Umschichtungen ab, was staatliche Intervention, Regulierung und Förderprogramme betreffen. Bei richtiger und rechtzeitiger Reaktion, könnte dies dazu beitragen, den technologischen Fortschritt so zu kanalisieren, so, dass die ganze Gesellschaft davon profitierte. Wenn nicht, würden sie sich bald einmal von einem wütenden und arbeitslosen Heer von Bürgern attackiert sehen.
Swiss Innovation Valley?
Dass das Word Wide Web am Cern in Genf entwickelt wurde, freut uns. Wenn wir fragen: „Wer hat‘s erfunden?“, lautet die Antwort natürlich: Tim Berners-Lee, der Engländer am Cern. Ob er Berner-Wurzeln hat ist nicht bekannt. Die Schweiz ist also sozusagen Heimat des Auslösers des WWW.
An dieser Stelle kommt der Aufruf Martin Vetterlis, Professor für Informatik und Kommunikation an der ETH Lausanne in der NZZ zur rechten Zeit. Er vergleicht das weltberühmte Silicon-Valley in Kalifornien mit seinen rund 5 Millionen Einwohnern, zwei Spitzenuniversitäten auf einem Raum von 80 auf 20 Kilometern mit unserem Land. Dort versammeln sich Talente aus der ganzen Welt um zu studieren, forschen und anschliessend Start-ups zu lancieren. Warum sollte das der Schweiz nicht auch gelingen? Wir haben mehrere Top-Universitäten, Fachhochschulen, eine ausgezeichnete Bildungslandschaft, um die wir beneiden werden.
Vetterli plädiert für ein „Swiss Innovation Valley“ als Drehscheibe europäischer Innovation. Die Voraussetzungen sind alle vorhanden. „Wir könnten von den besten Köpfen weltweit profitieren – dies aber nur, solange das Land seine Kultur der Offenheit beibehält. Eine politische Isolierung hätte den Verlust der wissenschaftlichen Erstrangigkeit zur Folge. Einer der wichtigsten Innovations- und Wohlstandsmotoren der Schweiz ginge verloren.“
Die Erfolgsgeschichte unseres Landes beruht auf einem Mix aus weltoffener Politik, weltweit tätiger Wirtschaft und tüchtiger, zuverlässiger Arbeitskräfte. Diesen Spitzenplatz gilt es auszubauen, mit vereinten Kräften. Das wäre ein identitätsstiftendes Projekt für alle politischen Parteien – auf welcher Seite des „Swiss Innovation Valleys“ sie angesiedelt sind. Ab 1.1.2015 läuft der Countdown.
Buchhinweise:
„The Second Machine Age“, Erik Brynjolfsson, Andrew McAfee
“Das Kapital im 21. Jahrhundert”, Thomas Picketty
„Zero to One“, Peter Thiel
„Die Null Grenzkosten Gesellschaft“, Jeremy Rifkin
„The New Digital Age“, Eric Schmidt + Jared Cohen