Uttwil überrascht. Das gelingt dem kleinen Thurgauer Dorf deshalb, weil es sich nicht mit der Faszination des Lichts, der Farben und der Weite des Bodensees und seinem praktischen Nutzen begnügte, sondern das Geschenk der Natur mit klugen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes kultivierte. Im Heute ist das Damals aufgehoben. Es wandelte und modernisierte sich. Aber mit einer Achtsamkeit, die aus Stolz auf die Vergangenheit die Herausforderungen der Zeit bewältigte und die kulturelle Tradition erneuerte. Das Dorf mit seinem urbanen Geist ist voller Vitalität und Anmut. Uttwil überrascht. Auch mit den Meisterkursen und ihrer internationalen Resonanz.
Hörbare Fortschritte
Der musikalische Austausch findet zum achten Mal statt, und zwar vom 23. bis 30. August. Die am Lausanner Konservatorium lehrende Pianistin Brigitte Meyer ist seit Anbeginn die künstlerische Leiterin. Neben ihr führen der Pianist Daniil Kopylov, Tschaikowsky-Konservatorium Moskau, der Violinist Bartek Nizioł, 1. Konzertmeister am Opernhaus Zürich und Professor an der Berner Hochschule der Künste, und der Violoncellist Emil Rovner, Professor an der Musikhochschule Dresden, je eine Meisterklasse, in denen je sechs Musikstudentinnen und -studenten aus aller Welt ihre musikalische Arbeit verbessern und sich für die beiden Schlusskonzerte vorbereiten.
Die Fortschritte seien vernehmbar, sagt Margrit Stickelberger, die in einem musikalischen Luzerner Haus aufgewachsene, bis zu ihrer Pensionierung Gymnasiallehrerin für Literatur, mäzenatische Gründerin und mit Kompetenz und Herz Gesamtverantwortliche der Meisterkurse. Wer sich als Hörerin oder Hörer in einen Unterrichtsraum setze, nehme teil am Erlebnis der technischen und interpretatorischen Steigerung, die sich vor allem einstelle, weil die Studierenden jeden Tag mit ihren Meistern während einer intensiven Privatstunde an der Perfektionierung feilen.
Impulse von aussen
Zeit haben, sich Zeit nehmen, Diskussionen anregen und mit einer guten, leisen Organisation einen unbelasteten Aufenthalt zu gewährleisten, sind die besonderen Merkmale der Uttwiler Meisterkurse. Sie wollen von aussen Impulse holen, doch das Ambiente des ruhigen Dorfes wahren und in seiner Übersichtlichkeit den Visionen freien Lauf lassen. Es funktioniert.
Örtliche Gemeinschaft
Das Gelingen ist auch der örtlichen Gemeinschaft geschuldet, die sich um die Kurse bildete. Für Räume, Unterkünfte, Instrumente, Verpflegung, organisatorische Unterstützung sorgen Besitzer herrschaftlicher Häuser, Kirchgemeinde, Restaurants, Familien und Einzelpersonen. Öffentliche und private Hände alimentieren das Budget. Die Finanzierung glückt von Jahr zu Jahr. Die längerfristig gesicherte Kontinuität wäre ein Segen.
Lange Tradition
Die Spuren der Meisterkurse gehen - etwa kühn behauptet, doch nicht falsch - aufs 18. Jahrhundert zurück. Damals und bis zum Bau des Romanshorner Hafens und der Thurtallinie, also während hundertfünfzig Jahren, mehrte Uttwil als bedeutender Umschlagplatz für Korn und Salz seinen Reichtum. Er spiegelt sich in repräsentativen Gebäuden, ohne die die Meisterkurse undenkbar wären. Auch deshalb, weil sich die kaufmännische Tüchtigkeit mit einem bürgerlichen Engagement für die Kultur verband.
Es kulminierte nach dem Ersten Weltkrieg, als der Architekt Henry van der Velde und aus der Literatur René Schickele, Annette Kolb und Carl Sternheim in Uttwil gastlich aufgenommen und von Prominenz wie Pamela Wedekind oder Erika Mann besucht wurden. Das Dorf gewann ein kulturelle Aura, von der sich später der Maler Ernst Emil Schlatter und die Schriftsteller Walter Kern, Paul Ilg und Emanuel Stickelberger angezogen fühlten. Und jetzt grosse Musikerinnen und Musiker und ihre Schülerinnen und Schüler.
Die Meisterkurse sind aus der historischen Perspektive, in ihrer aktuellen Gestaltung und durch die vielfältige Trägerschaft ein Gesamtkunstwerk. Eigentlich und rundum bedacht alles andere als überraschend.
www.meisterkurse-uttwil.ch