Am 1. September 1939 entfesselt der «Führer» des Deutschen Reiches, Adolf Hitler, den Zweiten Weltkrieg. Bald ist die Schweiz eingeschlossen. Sie fühlt sich «wie ein Ei in einer gepanzerten Faust», formuliert es der einstige liberale «Bund»-Chefredaktor Ernst Schürch nach dem Krieg. Der Bundesrat ist hin- und hergerissen zwischen der Furcht vor Repressalien und der Angst vor einem Angriff – verzweifelt bemüht, die von den Achsenmächten umschlossene Schweiz unversehrt durch die Kriegsjahre zu navigieren.
Etter-Privatnachlass führt zu neuen Sichten
In seinen unveröffentlichten Erinnerungen umschreibt Philipp Etter (1891–1977) diese Situation: «Und ohne das, was uns Deutschland – gegen unsere eigenen Leistungen selbstverständlich – lieferte, hätte der General keinen einzigen Bunker bauen und hätten wir keine einzige Kanone giessen können!» Das ist die Lage der politischen Führung. Zu diesem Bundesratsgremium gehört Etter, 1934 in die Landesregierung gewählt und 1940 nach Marcel Pilet-Golaz der amtsälteste Departementsvorsteher. Früh und über Jahre hinweg verschafft ihm diese Position im Kollegium eine zentrale Rolle.
Der Zuger Bundesrat mit den markanten Zügen und dem kahlen Kopf erhält nun eine akribisch recherchierte, sorgfältig redigierte und eloquent formulierte Biografie. Verantwortlich zeichnet der Historiker Thomas Zaugg. (1) Als Erster konnte er Philipp Etters Privatnachlass auswerten. Er liegt im Staatsarchiv Zug und ist seit 2014 der Öffentlichkeit zugänglich. Geheime oder vertrauliche Bundesratsakten habe er «dem Feuer anvertraut, wo sie vor Verrat und Missbrauch am sichersten waren», schreibt Etter 1960 dem Vizebundeskanzler. Dennoch umfasst sein Nachlass rund 13 Laufmeter und 1’255 Dossiers und, wie Zaugg mit vielen kritischen Passagen nachweist, auch belastendes Material. Ganz verschiedene Quellenarten wie Ansprachen und Vorträge, Manuskripte und Memoirenfragmente, Korrespondenzen und bundesrätliche Akten finden sich im Bestand. Vier Jahre lang erschloss Zaugg diese Dokumente und wertete sie aus. Für ihn ist Etter «eine der streitbarsten und interessantesten Personen der Schweizer Geschichte». Die autoritären und antisemitischen Tendenzen in der Schweizer Politik der 1930er- und 1940er-Jahre wie auch die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wurden mit seiner Person und Funktion identifiziert; sie sorgten für «Kontroversen, die nie geklärt wurden». Mit der sorgfältigen Studie, die zugleich seine Dissertation ist, will der Autor «Missverständnisse und einseitige Lesarten korrigieren», schreibt er in der Einleitung.
Bundesrat in Zeiten der Extreme
Etters Biografie liest sich wie ein Bildungsroman. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, wächst im katholischen Handwerker- und Bauerndorf Menzingen mit tief verwurzelter agrarischer Religiosität auf. Er besucht die Stiftsschule Einsiedeln, wird Jurist und mit 20 Jahren bereits Chefredaktor der katholisch-konservativen «Zuger Nachrichten». Für die Konservative Volkspartei (KVP) zieht er 1923 in den Zuger Regierungsrat ein und 1930 in den Ständerat. Im März 1934 wird er – erst 42-jährig – überraschend Bundesrat und bleibt es 25 Jahre lang. Deswegen wurde er ironisch als Philipp «Etternell» bezeichnet, der «ewige» Magistrat.
Jungkonservative und auch Frontisten verbuchen seine Wahl und den Wechsel im Bundesrat als einen Sieg. Warum? Nicht wenige – auch aus studentischen Kreisen – erhoffen sich nach Hitlers «Machtergreifung» vom 30. Januar 1933 eine autoritär geführte Eidgenossenschaft – und damit den Weg aus der Wirtschaftskrise. Etter vermittelt zwar den Eindruck eines volksnahen, autoritären Landesvaters. Er setzt auf eine «christliche Regeneration unserer schweizerischen Demokratie», einen starken Antisozialismus und Antiliberalismus.
Veränderung im «Geist»
Gleichzeitig aber ist er Vertreter des gemässigten Innerschweizer Flügels der KVP mit ausgesprochen vorsichtiger Haltung. Seine Erneuerungsrhetorik zielt nicht auf eine konservative Revolution, sondern auf eine Veränderung im «Geist». Deutlich wird dies unter anderem in einer Kernaussage Etters zur «Geistigen Landesverteidigung». Ende 1938 beschwört er den Zusammenhalt der mehrsprachigen Schweiz: «Der schweizerische Staatsgedanke ist nicht aus der Rasse, nicht aus dem Fleisch, er ist aus dem Geist geboren.» Der überzeugte Föderalist steht der Vereinheitlichung von Kultur auf Bundesebene aber kritisch gegenüber, wie Zaugg anhand von Privatbriefen neu aufzeigt. 1937 schreibt Etter: «Alle Zentralisation im Geistigen führt zum Ungeist.» Zugleich mokiert er sich über die gleichgeschaltete «Mist-ik [sic!]» im Dritten Reich.
Etter als wandlungsfähige Integrationsfigur
Zaugg würdigt Etter als einen Magistraten, der mit seiner ambivalenten, oft aber vermittelnden Haltung eine wandlungsfähige Integrationsfigur des politischen Katholizismus auf dem langen Weg zur sozialen Marktwirtschaft und zum Zweiten Vatikanischen Konzil repräsentiert. Mit seinen Erkenntnissen aus dem intensiven Quellenstudium widerspricht Zaugg aber auch bisherigen Urteilen, die sich sogar auf Falschzitate abstützen. Die Erziehung des Volkes zu «lebensgesetzlichem Denken» und die «Eindämmung ungesunden Lebens», wie Standardwerke von renommierten Historikern bis heute behaupten, hat Etter nicht gefordert.
Ein in vielen schwierigen Sachfragen überforderter Politiker
Zaugg weist zurückhaltend auf diese und weitere eklatante Fehler in der Forschungsliteratur hin. Trotzdem fällt der Abschied von liebgewonnenen Ansichten manchen Fachleuten offensichtlich schwer. Die Dissertation zeichne «ein differenziertes Bild», titelte die Rezension von Georg Kreis in der «Neuen Zürcher Zeitung». (2) Für Marco Jorio, bis 2014 Herausgeber des Historischen Lexikons der Schweiz (HLS), ist Zaugg «ein grosser Wurf» gelungen. (3) Viele andere Kritiker führen die Diskussion aber nicht auf der gleichen Flughöhe. Wer die erste ernstzunehmende Etter-Biografie eine Verteidigung nennt, gehört entweder nicht zu ihren Lesern oder verfolgt die durchsichtige Taktik, dem Gegner unhaltbare Aussagen zu unterstellen.
Die neue Sicht auf Etter ist weder beschönigend noch ausblendend, ganz im Gegenteil. So widmet sich Zaugg in drei Kapiteln Etters antisemitischen Stereotypen. Die innere Widersprüchlichkeit tritt offen zutage: Zaugg deckt neben bisher unbekannten, eindeutig judenfeindlichen Aussagen und Handlungen auch auf, dass Etter einzelnen Juden geholfen und sich bei verschiedenen Gelegenheiten gegen Antisemitismus ausgesprochen hat. Bezogen auf 1940 spricht Zaugg sogar von einem überforderten Etter. Gleichzeitig belegt er aber, dass sich Etter in diesem wichtigen Jahr im Gegensatz zu früheren Gerüchten klar von autoritären Erneuerungskreisen distanziert. Auch im Frontenfrühling 1933/34 erweckt Etter einen zwiespältigen Eindruck. Dennoch machen seine Korrespondenzen deutlich, dass er über die rechtsradikale Aufbruchsstimmung in der katholischen Jugendbewegung schwer besorgt ist. Verzweifelt versucht er, die Jugend vor einer Radikalisierung zu bewahren, indem er ihr entgegenkommt.
Ein Magistrat mit vielen Fehlern
Etter ist sich seiner eigenen Schwächen bewusst. Als Alt-Bundesrat hofft er im Rückblick auf den Frontenfrühling, «dass nicht jeder Unsinn ausgegraben wird, den ich vor Jahrzehnten schrieb und aussprach». Vieles davon und noch einiges mehr hat Zaugg nun ausgegraben. Auf dem Sterbebett bekennt Etter seinem Sohn, dem Einsiedler Benediktinerpater Kassian, dass er «in seinem Leben viele Fehler gemacht» habe. Auch diese Fehler gehören zum differenzierten Etter-Bild, das Thomas Zaugg in seiner lesenswerten Biografie zeichnet.
(1) Thomas Zaugg (2020): Bundesrat Philipp Etter (1891–1977). Eine politische Biografie. Basel: NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, 768 S., Fr. 58.–.
(2) Georg Kreis: Wandlungen eines autoritären Staatsmanns. In: NZZ, 27.03.2021, S. 28
(3)https://www.academia.edu/44736143/Rezension_zu_Thomas_Zaugg_Bundesrat_Philipp_Etter_1891_1977_Eine_politische_Biografie_Basel_2020?email_work_card=reading-history