Darf man in Zeiten des Coronavirus überhaupt noch unterwegs sein? Oder muss man sich mit den in der Migros und im Coop gehamsterten Waren zuhause verschanzen?
Als ob sie uns verspotten möchte, fällt dieser Tage die Natur in einen frühlingshaften Rausch. Die Vögel pfeifen um die Wette, als ob sie des Menschen Denken zurück aufs Wesentliche lenken möchten. Wer ohne Benützung des ÖV Felder, Auen und Wälder zu erreichen vermag, sollte sich dem Lockruf nicht widersetzen. Immerhin haben wir in der Schweiz noch kein Ausgehverbot wie in andern Ländern, und das ist gut so.
Schätze der eigenen kleinen Welt
Aber auch die „innere Immigration“ in die eigenen vier Wände kann uns helfen, die Seele mit Zuversicht, ja Freude zu nähren. Es ist wahr, das Coronavirus bringt manches ins Wanken in unserem Leben, auch Dinge, die uns erst durch ihr plötzliches Wegfallen bewusst werden. Und hinter dem Weggefallenen erscheinen dann manchmal, wie wenn man an einer Mauer den Verputz wegkratzt und ein altes Fresko entdeckt, längst vergessene Bilder aus unserem Leben.
Kenne ich überhaupt meine kleine Welt, welche mich bisher in aller Selbstverständlichkeit umgeben hat? Kenne ich die Schätze, welche sich in Haus und Garten unbemerkt in vergessenen Ecken angesammelt haben und auf Wiederentdeckung warten? – Ich bin gestern durch unseren Garten gegangen. Er ist gross und wild und, legt man den Massstab goldküstiger Gartenordnung an, wächst uns nur allzu oft über den Kopf. Das freut die Eidechsen, die wir vor zwei Tagen erstmals wieder zwischen den Steinplatten herumrennen sahen. Sie haben vor einigen Jahren unseren Garten entdeckt. Ein Biologe sagte mir kürzlich, die Eidechsen würden sich entlang der Bahntrassen verbreiten. Tatsächlich führt die Bahn an unserem Garten vorbei.
Aber über den Garten wollte ich heute nicht schreiben, auch nicht über den 70-jährigen japanischen Ahorn, welcher vor anderthalb Jahren auf einem Tieflader den Weg von Winterthur, wo er einer Garage weichen musste, bis zu uns gefunden hat, nicht über die Vögel, welche ihn und die andern alten Bäume lieben, der Grünspecht oder die turtelnden Wildtauben, der Distelfink und unsere Meistersinger, die Amseln, welche abends vom Dachfirst Botschaften in die Welt schicken.
Auch wäre es ohnehin noch zu früh für den Abendflug der Fledermäuse vor den erleuchteten Fenstern. Auch die Igel haben sich noch nicht gezeigt. Dafür heulte vor einigen Wochen ein Fuchs so herzzerbrechend durch die Nacht, dass ich lange wach blieb und mir vorzustellen versuchte, wie er zwischen Hecken und parkierten Autos nach Artgenossen sucht.
Die alte Plattensammlung
Doch nein, der Garten ist nicht mein Ziel. Meine heutige Wanderung führt mich durchs Haus, wo Schätze anderer Arten auf Entdeckung harren. In einem Schrank hinter alten Kleidern, welche seit langem auf den Sack von Texout warten, finde ich meine alte Plattensammlung. (Ich kann alles leicht wegwerfen ausser Bücher, Platten und CDs!) Einige Exemplare stammen noch aus meiner Berliner Studienzeit vor bald sechzig Jahren. Damals kosteten die Platten für ein studentisches Budget noch ein Vermögen. Umso öfter erklangen die wenigen, die ich hatte, die „Rheinische“ von Schumann zum Beispiel, das Flöten-Harfen-Konzert von Mozart, das erste Klavierkonzert von Brahms mit Rudolf Serkin und Eugene Ormandy oder die grosse C-Dur Sinfonie von Schubert mit den Berliner Philharmonikern unter Furtwängler.
Und ganz zuhinterst finde ich, wie konnte ich das nur vergessen, eine Aufnahme der Düsseldorfer Gründgens-Inszenierung von Faust I mit Paul Hartmann als Faust, Käthe Gold als Gretchen und Gustaf Gründgens als Mephisto. Ich habe sie vor vielen Jahren nach der Auflösung der Wohnung meiner Mutter nach Hause gebracht. Zum Glück habe ich mir vor einigen Jahren eine neue Grammophonanlage gekauft. Zeit haben wir ja jetzt. Für wie viele Abende reicht dieser Vorrat? – Wohl für einiges länger als die gehorteten Vorräte an Reis und Spaghetti.
Von Alfred Andersch zu Thornton Wilder
Von den unsichtbaren Schätzen im Schrank wechsle ich jetzt zu den sichtbaren. gehe entlang der in verschiedenen Zimmern verteilten Bücherregale. Im Esszimmer stehen die Romane. Sie beginnen oben links beim A. Dort stosse ich auf ein Fischer Taschenbuch aus meiner Schulzeit: Alfred Andersch, „Sansibar oder der letzte Grund“. Ich schlage die erste Seite auf und lese: „Irgendwo ist die Freiheit, ein fernes Land. Sieben Meilen sind es bis dorthin oder auch tausend. Dazwischen die offene See, das Wagnis der befreienden Tat ...“ – Wenn ich mich recht erinnere, hatte damals mein Französischlehrer Walter Widmer Andersch ans Basler Realgymnasium zu einer Lesung eingeladen.
Ich reisse mich los und wandere weiter, von einem Regal zum nächsten, wechsle ins Nachbarzimmer, nehme hier und dort ein Buch heraus. Manchmal werden Erinnerungen wach an Ort und Zeit, als ich das Buch erstanden hatte. Oft sage ich mir: „Das solltest du auch wieder einmal lesen.“ Dann, fast bin ich schon beim Z angekommen, sticht mir der angerissene Buchumschlag mit der roten und schwarzen Schrift ins Auge, der mir sofort vertraut scheint, als hätte ich ihn erst gestern in den Händen gehabt: Thornton Wilder: „Der achte Schöpfungstag[dd2] “. Auf der ersten Seite steht eine Widmung meiner Mutter an ihre Schwiegertochter: „Unserer lieben Sibyl am 1. Geburtstag bei Dieter“, 15. März 1969. Das war ein knappes Jahr nach unserer Hochzeit.
«Der achte Schöpfungstag»
Ich komme ins Grübeln: Was hat meine Eltern gerade zu diesem Geschenk an ihre Schwiegertochter bewogen, frage ich mich. War es das Zusammenfallen ihres Geburtstages mit den „Iden des März“, dem Titel eines früheren Buches von Thornton Wilder, oder verbirgt sich darin eine Botschaft an die jungen Eheleute? Ich kann sie nicht mehr fragen; mein Vater starb drei Wochen später, und meiner Mutter, welche ihren Mann zwar 36 Jahre überlebte, habe ich die Frage – wie so viele andere Fragen – nie gestellt. Vielleicht finde ich die Antwort im Buch selbst, und nehme mir vor, es bald wieder zu lesen. Für den Moment hilft mir Wikipedia für die Auffrischung meiner Erinnerung:
Das Buch handelt von den Familien von Beckenridge Lansing und John Ashley, welche im Jahre 1902 das Schicksal in der hypothetischen Bergwerkstadt Coaltown im südlichen Illinois in tragischer Weise miteinander verkettet. Ashley, der tüchtige, aber bescheidene Ingenieur und faktische Leiter des heruntergekommenen Bergwerkes, wird zu Unrecht für den Mord an Lansing, seinem unfähigen Vorgesetzten, verantwortlich gemacht und zum Tode verurteilt.
Auf dem Weg zur Hinrichtung wird er von einer Gruppe maskierter Männer gewaltlos befreit. Ashley gelingt eine abenteuerliche Flucht nach Chile, wo er sich in einer Kupfermine durch seinen Fleiss und seine Fähigkeiten bald einen Namen macht. Schon wähnt man den Helden in Sicherheit, als er wegen des auf ihn gesetzten Kopfgeldes verraten wird, nach dreijähriger Flucht erneut flüchten muss und kurz danach auf einem untergehenden Schiff den Tod findet, ohne dass jemand von seiner Familie davon erfährt.
Die Sehnsucht nach einem andern Ort
Unterdessen hat die Dämmerung eingesetzt. Meine Wanderung dauert offenbar länger als mein Gang zum Pfannenstiel. Höchste Zeit für einen Drink und das abendliche Ehegespräch. Doch dann entdecke ich auf dem letzten Regal einen Stapel von Büchern, welche auf ihren definitiven Platz im Büchergestell warten, zuoberst Daniel Mendelsohns Roman „Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich“. Ich habe das Buch vor zwei Wochen in Frankreich gelesen, als man noch reisen durfte, zugegeben nicht in der Originalsprache, sondern in der feinfühligen Übersetzung von Matthias Fienbork. Es ist die wahre Geschichte des Altphilologen Daniel Mendelsohn und seines über 80-jährigen Vaters Jay, Mathematiker, der beschliesst, dem Seminar seines Sohnes am Bard College zu folgen, was für beide das Tor für eine neue Begegnung zwischen Vater und Sohn öffnet. Eine wunderbare, berührende Geschichte.
Homer, der Vater aller Geschichtenerzähler! – Ist es nicht das, was all meine Schätze auf den Regalen verbindet, das Weitergeben einer Geschichte, verbunden mit der Lust am Fabulieren? Und dann die Odyssee, der Archetyp der Geschichte über das Unterwegssein und die Sehnsucht nach einem andern Ort, die – welcher Zufall!? – sowohl bei Andersch als auch bei Wilder und wohl bei vielen andern Büchern meiner Sammlung das übergeordnete Thema darstellt.
Meiner Frau habe ich vor ein paar Jahren die im Manesse-Verlag erschienene Ausgabe der Odyssee von Kurt Steinmann mit Illustrationen von Anton Christian geschenkt. Nun denn, jetzt ist es die richtige Zeit, mit dem gegenseitigen Vorlesen zu beginnen. Auf denn ins gemeinsame Abenteuer. Vierundzwanzig Gesänge warten auf uns. Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt:
Muse, erzähl mir vom Manne, dem wandlungsreichen, den oft es
abtrieb vom Wege, seit Trojas heilige Burg er verheerte.
Vieler Menschen Städte sah er und lernte ihr Denken ...