Bildung ist wieder da als eines der Top-Themen. Ganz vergessen war sie natürlich nie, aber nach den ungestümen Aufbrüchen der sechziger Jahre mit ihrem Impetus zur Verbesserung der Gesellschaft waren Bildungsfragen für längere Zeit vorwiegend ein Spezialthema für Fachleute. Das hat sich geändert: Bildung steht in Regierungserklärungen, Parteiprogrammen und auf Medienagenden weit oben. Das Bildungswesen ist ein wirtschaftlicher Standortfaktor erster Güte. Entsprechend geniessen «Investitionen in Bildung» breite Zustimmung.
Kino als Augenöffner
Anregungen zum Nachdenken über Bildung kommen mitunter von unerwarteter Seite. Zum Beispiel vom Film «La vie d’Adèle» von Abdellatif Kechiche (Frankreich 2013). Der letztjährige Gewinner der Goldenen Palme von Cannes, eine einfache und eindringliche Geschichte vom Erwachen und Zerbrechen einer Liebe und der schmerzhaften Individuation einer jungen Frau, füllt nun schon längere Zeit die Kinos. «La vie d’Adèle» ist zwar ein Film über weibliche Autonomie und lesbische Sexualität, aber gleichwohl kein blosser Themen- oder gar Thesenfilm. Über die Liebesgeschichte hinaus wird da ein Leben im Frankreich unserer Tage gespiegelt, und es ist nicht zuletzt auch diese Einbindung in ein soziales und kulturelles Zeitbild, was dem Film Glaubhaftigkeit und erzählerische Kraft gibt.
Eine Facette dieses Zeitbildes sei hier herausgegriffen, und zwar die Schilderung der Literaturlektionen an Adèles Gymnasium. Die Stunden verlaufen als klassischer Frontalunterricht, erteilt von einem strengen, fordernden Lehrer, der die Schülerinnen und Schüler aus der Reserve lockt und zu eigenen literarischen Versuchen veranlasst. In diesem Unterricht herrscht ein unbedingter Ernst, der sich aus der existenziellen Dimension der behandelten Texte speist. Es ist gar nicht erst die Frage, ob Choderlos de Laclos oder Marivaux diese Jugendlichen etwas angingen, sondern eben dies ist die Arbeitsgrundlage, auf der sie lernen, Literatur zu lesen und zu ihrem eigenen Thema zu machen.
Schule als Ursprungsort von Kultur
Die Unterrichtsszenen am Anfang präludieren das grosse Thema des Films: Selbsterkenntnis und Selbstfindung. Der Französischlehrer drängt seine Schüler, über ihren altersbedingten Horizont hinauszugehen und sich durch das Medium der Literatur in Lebenskonstellationen zu orientieren, die sie erst erahnen können. Sein Unterricht ist nicht nur Anreiz zu geistigen Abenteuern, sondern er gibt den lebenshungrigen Jugendlichen Stoff für Erfahrungen, für die sie sich auf die Zehenspitzen stellen und mächtig strecken müssen.
Mit diesen Sequenzen verknüpft der Film das Schicksal seiner Protagonistin mit einem ins Grosse entworfenen Verständnis von Bildung und Personwerdung und dadurch auch mit einer Idealvorstellung menschlicher Kultur. Das prosaische enge Schulzimmer als Ort des Geschehens bricht wohltuend das Pathetische dieser erzählerischen Perspektive. Auch sind die Schüler nicht dauernd Feuer und Flamme, sondern der Lehrer hat stets gegen ihre Trägheit anzukämpfen. Aber sie lassen sich ansprechen, sie sind dabei, und sie geben kleine Signale des Respekts für den Lehrer und die Gewichtigkeit seines Unterrichts.
Heile und gebrochene Schulwelten
«La vie d’Adèle» ist nicht der erste französische Film, der von schulischer Erziehung und Bildung mit derartigem Pathos erzählt. Unvergessen ist der Dokumentarfilm «Être et avoir» von Nicolas Philibert (Frankreich 2002) über den Lehrer Georges Lopez, der in einem winzigen Dorf in der Auvergne eine Mehrklassenschule unterrichtet. Die hervorragend gemachte Doku führt einen Schulalltag vor Augen, in dem kleine und schon etwas grössere Kinder als individuelle Personen gefördert und gebildet werden und im sozialen Universum des Klassenzimmers ihren Platz finden lernen. Der Film hat damals ein grosses Publikum stark bewegt und vielen Lehrerinnen und Lehrern einen regelrechten Energie- und Motivationsschub gegeben.
Vor fünf Jahren dann erregte ein weiterer französischer Film über die Welt der Schule Aufmerksamkeit. «Entre les murs – la classe» von Laurent Cantet (Frankreich 2009), ebenfalls Goldene-Palme-Gewinner in Cannes, zeigt die problembeladene Realität einer Schule in der Pariser Banlieue mit überwiegend ausländischen Halbwüchsigen. Der Film beruht auf dem im Buchform erschienenen Erfahrungsbericht eines Lehrers, der schliesslich kapituliert hatte vor der übermenschlichen Aufgabe, in diesem Soziotop einen geordneten und erspriesslichen Unterricht abzuhalten.
Ideale im Stress der Banlieue
Cantet wählte die Form eines Dokudramas, in dem die Darsteller ihre eigenen Erfahrungen zur filmischen Erzählung verdichteten. «La classe» zeigt einen mit fast übermenschlichem Einsatz um seine Schüler (und mit ihnen) kämpfenden Lehrer. Dieser François Marin stellt sich den endlosen Widerständen, mit denen seine Schützlinge sich gegen die schulischen Anforderungen im besonderen und die ganze Gesellschaft im allgemeinen abschirmen. Er antwortet beharrlich auf jeden noch so rüden Widerspruch, begründet unermüdlich seine Forderungen, setzt sich mit dem ebenso multikulturellen wie verwahrlosten Umfeld auseinander, kämpft mit der Schulbürokratie – und scheitert schliesslich an eigenen Fehlern, die ihm nach zermürbenden Querelen unterlaufen. Trotzdem zeichnet «La classe» kein völlig hoffnungsloses Bild. Im Gegenteil: der Film steckt voller Hinweise, dass Marins Offenheit, sein Standhalten, seine kämpferische Haltung und sogar sein Versagen bei den Jugendlichen manchmal doch etwas auslösen. Der Film ist ernüchternd, aber in der Schilderung einer unerhörten pädagogischen Leidenschaft auch sehr beeindruckend.
Die Schule als Hort einer Bildung, die menschliche Reifung und soziale Emanzipation ermöglicht, ja eigentlich der Weg zu einer höheren Form der Existenz ist – das mit solchen Erwartungen befrachtete Schulwesen scheint in der französischen Kultur und Gesellschaft ein vitaler Topos zu sein. Zeugnisse dafür gibt es selbstverständlich nicht nur im Kino. Exemplarisch ist Albert Camus’ stark autobiografischer Roman «Der erste Mensch», in dem sein alter Ego vom Grundschullehrer «entdeckt», angeleitet, unterstützt und so recht eigentlich aus dem Elend herausgeführt wird.
Defizite eines technokratischen Konzepts
Die Schweiz diskutiert den «Lehrplan 21», mit dem einundzwanzig Deutschschweizer Kantone den Verfassungsauftrag zur Harmonisierung des Bildungswesens erfüllen wollen. Die Aufgabe hat herkulisches Format, denn so unbestritten auf der einen Seite das Postulat der Harmonisierung, so ehern ist auf der anderen das Festhalten an den kantonalen Hoheiten. Der Auftrag kann – wenn überhaupt – nur auf einer von konkreter Bildungsarbeit abgehobenen Ebene angegangen werden. So orientiert sich denn der «Lehrplan 21» am abstrakten Leitbegriff der Kompetenzen: Schülerinnen und Schüler erwerben in ihrer Volksschulzeit bestimmte Befähigungen, bekommen gewissermassen Werkzeuge in die Hand. Was sie damit anfassen und praktisch bewerkstelligen, kann in diesem Bildungsplan offen bleiben.
Vermutlich ist zu akzeptieren, dass der Verfassungsauftrag anders politisch kaum durchführbar wäre und die Bildungsplaner das unter den gegebenen Umständen einzig mögliche Verfahren gewählt haben. Der Preis jedoch, den Gesellschaft und Kultur dafür bezahlen, ist eine technokratische Bildungsdebatte. Kinder und Jugendliche erhalten den Status von zu Unterrichtenden, denen bestimmte vordefinierte Fertigkeiten beizubringen sind. Bildung wird zur Infrastruktur von Wirtschaft und Gesellschaft.
Könnte eine Bildungsdebatte nicht lebensnäher sein, wenn sie ansetzen würde bei der Wärme und dem Berufswissen von Lehrerpersönlichkeiten wie Georges Lopez? Stellen wir uns vor, in der Bildungsplanung würden so aufwühlende Erfahrungen wie die François Marins ernst genommen und verarbeitet! Und warum sollte es bildungspolitisch unmöglich sein, so hohe Ansprüche zu stellen wie der Französisch-Prof in Adèles Gymnasium? Ob im Lehrplan 21 oder anderswo: Solche die technokratischen Schablonen sprengenden Dimensionen sollten in der Bildungsdiskussion zumindest aufscheinen.