Tagein, tagaus wird heute gemessen. Auch die Bildung. Man muss zwar nicht genau wissen, was Bildung ist; es genügt, sie zu vermessen. Wie anders ist es zu erklären, dass Bildung mit der Zahl überreichter Diplome gleichgesetzt wird und mit der Summe absolvierter Schuljahre? Bildung wird zunehmend in Korrelation zu Zahlen gestellt und quantifiziert. Zahlen zählen viel. Doch auf Ziffern und Chiffren reduziert, verarmt das Bildungsdenken.
Der Begriff Bildung ist diffus geworden
Das Beispiel aus der ZEIT ist signifikant. [1] Die tertiären Abschlüsse in der Schweiz weiten sich aus, wie der Bildungsbericht Schweiz 2018 aufzeigt [2], und flugs ist die Schweiz gebildeter. Behutsamer geht die NZZ mit dem gleichen Sachverhalt um. Sie schreibt: „Die Menschen in der Schweiz werden immer ausgebildeter.“ Und vorsichtig fügt sie bei: „Aber werden sie auch gescheiter?“ [3]
Die Frage ist zu Recht gestellt. Werden sie nun gebildeter, die Schweizerinnen und Schweizer? Oder einfach ausgebildeter? Oder bedeutet beides gar Gleiches? Und worin liegt allenfalls der Unterschied? Eines ist sicher: Der Begriff der Bildung als solcher ist diffus geworden. Darum fällt die Definition schwer, selbst in der geisteswissenschaftlichen Denktradition. Sogar der Bildungsbericht Schweiz 2018 verzichtet auf eine Klärung. In einer sogenannten Wissens- und Informationsgesellschaft überrascht das eigentlich wenig.
Bilden kann sich jeder nur selbst
Darum lohnt es sich, an das zu erinnern, was Bildung eigentlich sein könnte. Der Philosoph Peter Bieri, unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch als Romancier bekannt, versuchte eine zeitgemässe und zukunftsfähige Bestimmung des Bildungsbegriffs:
„Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein blosses Wortspiel. […] Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“ [4]
Bildung als humane Kultivierung seiner selbst
Der Mensch ist nicht einfach, er hat „auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein“, sagt Peter Bieri. Voraussetzung dafür ist Bildung. Eben: Wenn wir uns bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden. Eine wunderbare Definition. Bildung als humane Kultivierung seiner selbst, meinte Wilhelm von Humboldt, Mitbegründer der Berliner Universität und Reform-Motor der preussischen Volksschule, sinngemäss. Daraus entsteht verantwortete Handlungsfähigkeit – im sozialen Kontext der Mit- und Umwelt. Darum sei der Gebildete derjenige, der versuche, „so viel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.“ [5]
So gedacht, lässt sich Bildung nicht standardisieren, denn sie kann konsequent nur vom Subjekt her gedacht sein. Der Welt und sich selber begegnen, die Wechselwirkung von Ich und Welt erfahren – auch im kleinen, persönlichen Mikrokosmos – und sie gestalten. Als tätiges Begreifen der Welt, darum geht es Humboldt. Das ist die Sinn-Perspektive der Bildung und vielleicht das humanistische Bildungsideal mit seiner lebensgestaltenden Energie.
Bildung ist mehr als ein Zertifikat
Daran wäre wieder zu erinnern, wenn von Bildung die Rede ist. Aktuell ist sie ja gefragtes Gut und in aller Munde. Da ist von Bildungsoffensive und Bildungsreserven die Rede, von Bildungsmanagement und Bildungsexplosion mit stetig steigender Zertifiziertenquote. Die Bildungssprache zeigt sich militant.
Aber, verdient dies alles noch den Namen Bildung? Oder handelt es sich hier bloss um Etikettenschwindel? Müsste das nicht anders bezeichnet sein? Als Ausbildung und Instruktion, als Unterricht und Lernen, als Trainings- und Qualifizierungsprozess? Und ist Bildung nicht allzu oft Synonym für den Wunsch, ein schönes Papier zu besitzen? Nicht umsonst sprach der „Beobachter“ vom „Diplom-Wahn“ und der blinden Jagd nach Zertifikaten. Eben: Der Ausweis von Bildung durch den Nachweis eines Dokuments mit Punkten und Titeln: Wo man von Bildung spricht, denkt man da nicht an die soziale Reputation oder gar die gesellschaftliche Distinktion – ganz im Sinne des französischen Soziologen Pierre Bourdieu? Man erkennt im Abschluss den Anspruch auf höhere Stellung und kräftigeres Salär. Aufstieg durch Bildung, Aufstieg als Zweck, Bildung als Mittel.
Liegt die Zukunft der Bildung in ihrer Vergangenheit?
Die Tendenz ist eindeutig: Bildung wird instrumentalisiert, funktionalisiert, redimensioniert. Liegt die Zukunft der Bildung darum gar in ihrer Vergangenheit? Wer über Bildung spricht, der müsste eigentlich zurückblicken – auf vorhandene Bestände und alte Philosophen, auf den humanistischen Bildungsbegriff oder Goethes beide Wilhelm Meister-Romane. 1999 noch erzielte Dietrich Schwanitz mit seinem verwegenen Vademecum „Bildung. Alles, was man wissen muss“ einen Verkaufsschlager. Doch er publizierte auf der Schnittlinie eines Umbruchs.
Vor Kurzem war gar „Fack ju Göhte“ angesagt. Die Filmkomödie kokettiert keck mit den kargen Kompetenzen. Der Titel zeigt es: Bildungsmangel macht niemanden mehr verlegen. Im Gegenteil. Man gibt seinem Erstaunen Ausdruck: „Ach, das kennen Sie? Das war wohl vor meiner Zeit.“ Wozu sich mit Bildungsgütern belasten? Im Netz lässt sich ja alles finden.
Bildung und der materielle Gewinn
Der Wissens- und Informationsgesellschaft droht die Bildung abhandenzukommen, so scheint es. Sie hat es mindestens schwer. Gefragt sind Kompetenzen, allüberall, beruflich kalkulierbar, ökonomisch einsetzbar, finanziell verwertbar. Die Idee der betriebswirtschaftlichen Effizienz hat die Idee der Bildung verdrängt.
Relevant ist Bildung heute als ökonomischer Faktor. Alles muss nützlich sein; alles braucht einen Transfernutzen, ganz gemäss der griechischen Anekdote: Der Schüler Stobaios hatte eben angefangen, beim Mathematiker Euklid Geometrie zu studieren. Als er den ersten Lehrsatz gelernt hatte, fragte er seinen Lehrer: „Welchen Gewinn habe ich nun davon, wenn ich all das lerne und all das weiss?“ Da rief Euklid seinen Diener und sagte: „Gib ihm drei Drachmen! Er muss Gewinn schlagen aus dem, was er lernt.“
Bildung ist kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont
2’500 Jahre sind seither vergangen. Stobaios ist längt tot und seine Haltung hoffentlich überlebt, nämlich: Bildung allein am möglichen Geldwert gespiegelt und am utilitaristischen Gedanken orientiert: „Was nützt sie mir?“ Bildung ist, so der Philosoph Hans Blumenberg, kein „Arsenal“, sondern ein „Horizont“. Das wäre mitzubedenken, wenn man Bildung quantifiziert und sie mit der Zahl von Zertifikaten gleichsetzt.
[1] DIE ZEIT, 26.07.2018, Nr. 31, S. 11.
[2] Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 173ff.
[3] Jörg Krummenacher: Immer strebsamer auf der Schulbank. In: NZZ, 21.07.2018, S. 15.
[4] Peter Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein? In: Hans-Ulrich Lessing, Volker Steenblock (Hg.): „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht…“. Klassische Texte einer Philosophie der Bildung. Freiburg im Breisgau: Verlag Karl Alber, 2010,S. 205f.
[5] Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Gesammelte Schriften I-XVII. Berlin 1903-1936, I, S. 255.