Bildung ist ein Vorgang aus vielen Quellen. Sie ist immer wieder zeitgerecht zu institutionalisieren und aus dem Wirrwarr des Zufallslernens zu befreien. Eine anspruchsvolle Aufgabe! Doch allzu oft wird in Verwaltung und Bürokratie an einzelnen Bildungs-Rädchen geschraubt und gedreht – vorwärts und rückwärts. Schnell verliert sich das Ganze aus dem Blick, vergessen geht das Strategische, übersehen wird der finale Bildungsauftrag. Das Operative dominiert; eine Einzelmassnahme soll es richten. Und genau das geschieht im Kanton Zürich.
Lern- und Arbeitsverhalten als gleichwertige Note
Der Run an die Maturitätsschulen ist gross. Rund 3’000 Jugendliche melden sich im Kanton Zürich jedes Jahr zur Aufnahmeprüfung ans vierjährige Gymnasium. Für sie gelten bald neue Regeln. Mitgerechnet werden die Vornoten aus der Sekundarschule und neu eine Note zum „Lern- und Arbeitsverhalten“. Diese „Verhaltensnote“ zählt gleich viel wie Naturwissenschaften, Englisch und Französisch.
Dagegen regt sich Kritik – und zwar vonseiten des Gymnasiums. Zu Recht, denn in den meisten Fällen gilt fürs Lernverhalten die Standardformel „gut“ und damit die Note 5. Ein sicherer Wert, eine Art Gratis-Bonus. Das Attribut gibt Auskunft, ob eine Schülerin pünktlich in den Unterricht kommt, ob ein Schüler seine Hausaufgaben erledigt, ob sie sich anständig und regelkonform benehmen. Eine solche „Note“ entscheidet künftig mit, ob Sekundarschüler den Übertritt ans Gymnasium schaffen.
Die magische Zahl 5 ist im Formular gar farblich gekennzeichnet. Sie gilt als Regelfall; Abweichungen sind die absolute Ausnahme. Umso mehr wird derjenige bestraft, der von der Note 5 abweicht – und dies möglicherweise noch dazu, weil er Autonomie und Mut zeigt – seit Immanuel Kant Merkmal der Aufklärung und der Bildung.
Lernleistung als einzig sozialneutrales Kriterium
Napoleon schwärmte seinen Soldaten vor, dass jeder Gefreite den Marschallstab im Tornister trage. Allein die Leistung zähle; es gälten weder Herkunft noch Geld, weder Konfession noch Parteibuch. Auf die Schule übertragen heisst das: Eine Prüfung mit Zuteilungscharakter hat nur eines zu beurteilen: die Lernleistung und damit spezifisches Wissen und Können. Sie sind das einzig sozialneutrale Kriterium und damit demokratiegemässer Massstab.
Wo aber wird nach Lernleistung gemessen und beurteilt? Auf der unterrichtlichen Sachebene. Sie darf, wie Paul Watzlawick gezeigt hat, nicht mit der Beziehungsebene vermischt werden. Allzu leicht kann sie in die Beurteilung des Arbeitsverhaltens hineinspielen. Und das bestraft nicht selten originelle, nonkonformistische Köpfe.
Am Gymnasium hängt, zum Gymnasium drängt doch alles!
Die Schule steht unter Druck. Es grassiert die Angst vor dem sozialen Abstieg – die Sorge, bei der Verteilung von Bildungschancen zu kurz zu kommen. Und Aufstieg erfolgt über Bildung.
Darum ist der Drang ans Gymnasium ungebrochen, die Matura für viele eine Conditio sine qua non. Ein Drittel schafft es nur mit Nachhilfeunterricht. Manche sind überfordert. Lehrerinnen und Lehrern kommt beim Übertritt darum eine hohe Verantwortung zu. Ihre Rolle ist nicht immer einfach und oft mit konkreten, gar handfesten Erwartungen verknüpft. Soziales Prestigedenken erhöht den Druck; nicht selten hilft der Anwalt nach.
Anpasserisches Verhalten ist kein Selektionskriterium
Lehrpersonen müssen zwischen elterlichem Anspruch und kindlichem Potential unterscheiden können: Gehört das Kind zu jenen Schülerinnen und Schülern, die gerne und ausdauernd lernen, die viel lesen und gedankliche Ansprüche suchen, die Fragen stellen und den Dingen auf den Grund gehen möchten – und die sich vorstellen können, einmal an einer Hochschule zu studieren? Dann führt der Weg ins Gymnasium. Ziel ist die gymnasiale Maturität.
Zuteilungskriterien sind einzig und allein sachbezogene Leistungen. Verhalten kann und darf als Selektionsfaktor keine Rolle spielen. Es verfälscht den Übertrittsentscheid.
In unserer Gesellschaft brauchen wir nicht mehr Höflinge und Bücklinge, wir brauchen mehr kreative Quer- und Kreuzdenker, wir brauchen nonkonformistische Köpfe, wir brauchen darum mehr Lichtenbergs und Einsteins.