Ohne ästhetische Urteile keine Kunst. Zum Begriff des Werks gehört zwingend die Beurteilung. Sie ist offen oder heimlich schon im Schaffensprozess wirksam, und sie gehört untrennbar zur Wahrnehmung und Erfahrung des Kunstwerks. Auch was intuitiv als schön empfunden wird, ist immer schon beurteilt – sei es dadurch, dass in der Begegnung mit dem Werk ein Werturteil sich spontan einstellt oder dass unbewusst ein anderweitig festgelegter Wertekanon zur Wirkung gelangt.
Das Ästhetische ist ein Attribut und dessen Zuschreibung ein Prozess. Geführt wird er vor einem virtuellen Tribunal. Redeberechtigt an diesem Gerichtshof sind so unterschiedliche und unsichere Instanzen wie Kunstverstand, Intuition, Konvention, Geschmack, Tradition, Common sense und selbstverständlich der Markt. Die aus den Verhandlungen dieses Gerichts resultierenden Urteile sind – wie alle Richtersprüche – irrtumsanfällig und revidierbar.
Ästhetische Referenzen
Wer urteilt, braucht Gesetze, oder im Fall der Kunst: Massstäbe, und diese werden geeicht an Referenzgrössen. Die Höhen des Ästhetischen sind grundsätzlich nicht limitiert. In seltenen Manifestationen erreichen sie Regionen weit über der gängigen Kunstproduktion. Um über Kunst adäquat urteilen zu können, empfiehlt es sich, an solch einsamen Spitzen Mass zu nehmen.
In der Musik ist nach breiter Übereinkunft die h-Moll-Messe von Bach ein solches Spitzenwerk. Am Karfreitag war sie im Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern (KKL) zu hören, und zwar in einer Aufführung, die tatsächlich in mancher Hinsicht qualitative Massstäbe setzte.
Keine Qualitätsfrage, sondern eine so oder anders mögliche, in unserem Fall sehr prononcierte künstlerische Auffassung steckte in Stil und Interpretation der Aufführung. Das von Robert King geleitete englische Ensemble The King’s Consort & Choir präsentierte die Messe als expressives Drama von Erlösungssehnsucht und Erfüllung.
Moderner Zugang
Auch wenn King und sein Ensemble sich einem «historischen» Klangideal und einer «historisch informierten» Interpretation verschrieben haben, zeugte ihre Deutung der h-Moll-Messe von einem modernen Zugang zu dem in seinen Ursprüngen drei Jahrhunderte alten Werk. Bach hatte seine erste und einzige Missa tota gewiss nicht «dramatisch» aufgefasst. Für ihn war die katholische, auch bei den Lutheranern gültige Messliturgie die überkonfessionelle Summe des christlichen Glaubens, und er widmete sich ihrer Vertonung während seinen letzten zwei Lebensjahrzehnten mit dem Ziel, die Summe seines Kunstverstands und seiner kompositorischen Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen.
Das Dramatische ist der Messe nicht fremd. Ihr Inhalt handelt von einem Geschehen zwischen Gott und der Welt, wie auch zwischen den Gläubigen und Gott. Zudem sind die Bezüge zwischen Liturgie und Theater evident: Sie haben gemeinsame Ursprünge und sind in ihren performativen Praktiken vergleichbar. Doch in der dogmatisierten, gleichsam verewigten Gültigkeit, in der Bach die Messliturgie sah, hob sie sich ab von den diesseitigen Dramen der Menschenwelt. Sie wurde zelebriert als Vergegenwärtigung des Ewigen – und als solche hat Bach sie komponiert.
The King’s Consort & Choir hat mit seiner expressiven Lesart das Werk in die Welt der diesseitigen Leiden und Hoffnungen transferiert. Wahrscheinlich hätte dieser Schritt weg von der zeitlosen Orthodoxie und hin zur menschlichen Dramatik dem alten Bach nicht einmal übel gefallen. Seine Musik arbeitet ja mit einer breiten Palette von Affekten und steht einer modernen dramatischen Deutung jedenfalls weit offen.
Höchstes Niveau – und Einbussen
Das englische Ensemble entfaltete in Luzern eine Klangpracht, die bis ins Detail jeder Stimme und jeder Instrumentengruppe transparent blieb. Robert Kings energisches Dirigat stellte die grandiose Architektur der Komposition überzeugend heraus. Mit stimmigen, nie überrissenen Tempi und ebenso mächtigen wie fein abgestuften Dynamiken hielt er das Werk in der Balance und sorgte in jedem Stück für eine fesselnde rhythmisch-agogische Durchführung. Die wunderbare Akustik des berühmten Weissen Konzertsaals vermittelte die Feinheiten genauso präzis wie die aufgetürmten Klangstrukturen der gewaltigen Musik.
Hätten sich die solistischen Parts auf gleichem Niveau bewegt wie The King’s Consort & Choir, so hätte die Luzerner Aufführung wohl das oberste Ende der Skala eines musikalischen Wertmassstabs markieren können. Doch die unbeteiligt wirkende Sophie Junker (Sopran), die gelegentlich überforderte Hilary Summers (Alt), der glanzlose John Mark Ainsley (Tenor) und der vollends fehlbesetzte David Wilson-Johnson (Bass) trübten den im übrigen grossartigen Eindruck. Zum Glück ist die h-Moll-Messe ein ausgeprägtes Chorwerk; 18 der 27 Nummern sind sängerisch dem Chor vorbehalten. So konnten Robert King und sein Ensemble den Abend im KKL trotz Einbussen bei den solistischen Partien zu einem musikalischen Ereignis machen, das der Qualität und der einsamen Stellung des Werks gerecht wurde.
Der gegenwärtige Bach
Die h-Moll-Messe ist nun aber eine jener künstlerischen Manifestationen, bei denen die Zuhörenden sich nicht so recht in der Position der Urteilenden sehen mögen. Das Verhältnis kehrt sich um: Die Musik fragt uns, ob wir entgegennehmen können, was sie bereithält. Jede Interpretation, die dieses Werk Bachs wirklich zu Wort kommen lässt, führt zu dem Effekt, dass die Hörenden unmittelbar und gegenwärtig diesem Johann Sebastian Bach gegenüber sind. Sie erleben nicht in erster Linie eine Interpretation, sondern hören seine Gedanken so, wie er sie in Musik gefasst hat.
Landen wir also zum Schluss beim offenen Widerspruch zu der eingangs aufgestellten These, die ästhetische Urteilsfähigkeit müsse an den einsamen Spitzen der Kunst Mass nehmen? Es scheint so, denn wenn die h-Moll-Messe uns das Beurteilen vergessen macht, so fällt ja die erhoffte Eichung unserer ästhetischen Massstäbe dahin. Ein derart zweckgerichtetes Hören erschiene ohnehin verfehlt. Und trotzdem haben Menschen, die von der h-Moll-Messe überwältigt waren, dies immer wieder in Form eines Werturteils ausgesprochen. Carl Friedrich Zelter, der die h-Moll-Messe 1811 mit der Berliner Sing-Akademie probte, bezeichnete sie als «das grösste Kunstwerk, das die Welt je gesehen hat.»
Zelter hat mit diesem gewagten Urteil zum Ausdruck gebracht, dass auch die Ergriffenheit ihren Massstab hat, nur dass er dann halt immer zu klein ist. Vor den grössten Werken versagt der ästhetische Gerichtshof; jedenfalls bringt er keine belastbaren Urteilsbegründungen zustande. Da schweigen dann die Richter. Und das Publikum ist froh, den Interpreten applaudieren zu können, da vor dem Werk nur das Verstummen bleibt. Wahrscheinlich ist dies das gesuchte Ende der ästhetischen Wertskala.