Lucien Favre ist erfolgreicher Fussballtrainer, beseelt von einer Idee und leidenschaftlich verliebt in seine Aufgabe, fachlich versiert und etwas „spleenig“, getragen von hohen Ansprüchen an sich selber, auf Augenhöhe seiner Spieler und doch ganz Patron. Für ihren Trainer gehen die Dortmunder Fussball-Profis durchs Feuer. Im Haifischbecken der deutschen Bundesliga liegt Borussia Dortmund im Moment an der Spitze.
Ein guter Trainer fordert und fördert
Wo immer Lucien Favre arbeitet, hat er Erfolg. „Alles tun, was der Sache dienlich ist“, heisst seine Leitdevise. (1) Kern ist der Blick fürs Ganze und die Arbeit an Details, dazu die intensive Beschäftigung mit jedem einzelnen Spieler – durch persönliches Vorzeigen und systematisches Üben, durch Animieren und Inspirieren. Der Trainer als Fussball-Lehrer: eine zutiefst pädagogische Aufgabe!
Lucien Favre macht seine Spieler besser. Selbst hartgesottene Professionals fühlen sich ernstgenommen. Das ist sein Geheimnis. Favre, der unermüdliche Trainer, führt seine Equipe mit vitaler Präsenz; als Regisseur gezielter Trainings nimmt er Einfluss. Individuell wie kollektiv. Das schafft Sicherheit. Gleichzeitig schenkt er den Spielern „Freiheiten und gibt Vertrauen“. Er scheut jene pädagogische Kernfrage nicht, die im Grunde schon ein kantisches Dilemma ist: Wie kultiviere ich Freiheit im Zwang des Systems und des Kollektivs?
Wissen und Können vermitteln
Gleiches gilt für die ehemalige Schweizer Frauen-Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg. „Ich hatte von Anfang an Ansprüche, ich hatte Ziele“, sagte sie in einem Interview und fügte bei: Von meinen Spielerinnen habe ich „auch etwas gefordert“. Mit ihrer konsequenten Art hat sie die nationale Frauen-Fussballequipe auf ein neues Niveau gehievt.
Favre wie Voss-Tecklenburg vermitteln ihren Teams fussballerisches Wissen und Können. Unerbittlich. Sie schulen und üben darum konsequent – nicht allein als Coach, nein, als zielstrebig agierende, vielseitig fordernde Regisseure und Trainingsverantwortliche.
Problematisches Desinteresse an den Lerninhalten
Wie anders tönen heutige Stellenausschreibungen für Lehrpersonen. Eine Luzerner Stadtgemeinde sucht aktuell einen „Coach und Lernbegleiter“, der sich – man höre und staune! – ausdrücklich „nicht als Wissensvermittler“ sieht. Hat denn die Schule nicht auch Grundkenntnisse zu vermitteln?, fragt man sich unwillkürlich und denkt nach. Und wenn es kein Wissen mehr zu vermitteln gibt, wird dann der Lehrer nicht überflüssig und verflüchtigt sich?
Aus einem solchen Stellenbeschrieb spricht ein geradezu fahrlässiges Desinteresse an den Lerninhalten, wie wenn Wissen in der Schule der Wissensgesellschaft keine Rolle mehr spielte und zu vernachlässigen wäre. Dank Digitalisierung ist es ja jederzeit und überall abrufbar. Doch wer keine Ahnung vom „Zeitalter der Extreme“ hat, dem hilft fürs Verstehen des 20. Jahrhunderts auch Wikipedia nicht.
Selbst-Aufgabe des Lehrens
Das Inserat klingt wie eine Selbst-Aufgabe pädagogischen Lehrens. Wie anders als über Inhalte sollen Kinder denn zum Beispiel Lernstrategien und damit Kompetenzen lernen? Sie lassen sich doch nur anhand von Wissen erwerben, durch nichts anderes. (2) Das Wissen der Hand geht einher mit dem Wissen des Kopfes. Darum formulierte Johann Heinrich Pestalozzi seinen pädagogischen Dreiklang von Kopf–Herz–Hand. Er wusste, dass Schule und Unterricht diese Trias miteinander entwickeln müssen, nämlich die Geschicklichkeit der beweglichen Hand zusammen mit dem Scharfsinn im Kopf und den Gefühlen im Herzen.
Kompetenz ohne Wissen
Wissen hat es heute schwer, wenigstens in der Schule. Es gilt als „elitär“. Gefragt sind operationalisierbare und messbare Kompetenzen, nicht träges, „totes“ Wissen. Die pädagogische Offizialsprache zeigt es: Früher sei Wissen gebüffelt worden, verkünden die Reformer; heute dagegen schule man Kompetenzen. „Kompetenzorientiert statt wissensbasiert“ oder „Von Stoffen zu Kompetenzen“ lauten entsprechende Slogans.
Alles hat heute kompetenzorientiert zu sein. Mindestens linguistisch meint der Kompetenzbegriff ja die Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten. Dagegen ist nichts einwenden; die Pädagogik sah es nie anders. Franz E. Weinert, auf den sich der ganze Lehrplan 21 beruft, spricht von den „kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten [des Individuums], um bestimmte Probleme zu lösen“. (3) Fähigkeiten, so Weinert, verlangen darum immer auch Wissensgrundlagen. Die Hand braucht den Kopf. Doch der Kompetenzbegriff wurde letztlich auf das Muster des (Nur-)Könnens reduziert; diese Sicht marginalisiert das Wissen und vergisst Bildungsziele wie Neugier und Verstehen, Interesse und Offenheit für Neues. Über fachliche Ansprüche und Inhalte wird kaum mehr gesprochen. Sie verkommen zur Nebensache.
Keine Bildung ohne Inhalte
Doch Menschen bilden sich an Inhalten, an „Stoffen“. Der geistige Horizont weitet sich an Aufgaben und Aspekten der Welt, die zum Objekt der forschenden Neugier und dann – über das Wissen – des Verstehens werden. Erkenntnis- und damit Bildungsprozesse entzünden sich an konkreten Wissensbeständen, an Charles Darwins Evolutionstheorie zum Beispiel oder an Nikolaus Kopernikus’ Weltbild. Man muss etwas kennen, um etwas zu erkennen.
Nur an Inhalten lernen wir, wie man klare Kriterien herausarbeitet, Strukturen aufbaut, begriffliche Raster findet, präzise Fragen stellt und die Neugier wie den Zweifel kultiviert. Im Diskurs – denkend, replizierend, argumentierend – erwerben wir auch jene intellektuellen Fähigkeiten, auf die es heute zwingend ankommt: kreative Intelligenz, skeptische Kompetenz, logische Kombination. Das sind unverzichtbare Qualitäten, ohne die man im Datenmeer des Internets ertrinkt. Alle diese Grössen sind gebunden an das, was früher materiale Bildung genannt wurde, also Wissenskontexte. Kompetenz ist eben nicht ohne Inhalte denkbar.
Können basiert auf verstandenem Strukturwissen
Damit Schülerinnen und Schüler zu kreativem und problemlösendem Denken kommen, müssen sie ein bestimmtes Mass an Faktenwissen erworben haben. Allein zu wissen, wo etwas steht und wie eine Information abzurufen ist, genügt nicht. Können braucht systematisch aufgebautes und verstandenes Strukturwissen. Tiefenverständnis setzt Oberflächenverständnis voraus. Damit Schüler Informationen weiterverarbeiten können, müssen die Wissenskontexte im Kopf sein – und nicht nur in digitalen Geräten.
Lucien Favres Profi-Equipe ist taktisch bestens geschult. Ihr taktisches Denken basiert auf Wissen. Der Fussball-Lehrer vermittelt es. In intensiven Übungssequenzen. Dieses Wissen muss in den Kopf der Spieler und dort automatisiert werden.
Von Favre lernen
Wissen steht in heutigen Schulen als elitär unter Generalverdacht, sportliches „Können“ aber nicht. Deshalb können Trainer fördern und fordern; Lehrer hingegen dürfen nur begleiten. So will es eine aktuelle Didaktik; so fordert es der zitierte Stellenbeschrieb.
Doch warum in der Schule nicht von Lucien Favre lernen? Und warum nicht den Leistungsgedanken reaktivieren? Favre weiss, dass Können Wissen braucht, und er weiss, dass beides nur unter Anleitung und mit Anstrengung erworben werden kann. Darum nimmt er Einfluss; er bestimmt die Ziele, zerlegt das Training in gezielte Einheiten, gibt Feedback, sorgt für den Erwerb der notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten und organisiert ausreichende Übungssequenzen. Favre kombiniert auf zweckmässige Art Einzel- und Teamarbeit, überwacht die Lernfortschritte der einzelnen Spieler, fördert sie und hilft – möglichst unauffällig, aber gezielt – bei Schwierigkeiten. Die Effektivität seines methodischen Vorgehens zeigt sich auf dem Feld. Borussia Dortmund ist unter ihm „aus einer Baustelle“ das deutsche Spitzenteam par excellence geworden.
Auf die Lehrperson und die Qualität ihres Wirkens kommt es an! Dieser Anspruch gilt nicht nur für den Fussball-Lehrer Favre.
(1) Stefan Osterhaus: Der Wiederholungstäter, in: NZZaS, 11.11.2018
(2) Michael Felten & Elsbeth Stern: Lernwirksam unterrichten. Im Schulalltag von der Lernforschung profitieren. Berlin: Cornelsen Schulverlag, 2014, S. 6.
(3) Franz E. Weinert: Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit, in: Ders. (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim: Beltz Verlag, 2001.