Der Titel irritiert. Warum nicht einfach, da ja beinahe jedermann diesen Künstler und seine späten mit dem Finger gemalten schwarzen Figuren kennt, „Louis Soutter“, sondern dazu „sehr wahrscheinlich“, in der Originalausgabe „probablement“? Traut der Autor sich selber nicht – der 1963 in Freiburg geborene, 2017 für diesen Roman mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnete Michel Layaz? Das „probablement“ lässt sich lesen als Vorbehalt: Dem Waadtländer Künstler Louis Soutter (1871–1942), dieser faszinierenden und nicht nur zu Lebezeiten seine Umgebung, sondern bis heute jeden sensiblen Menschen herausfordernde Persönlichkeit, ist mit Worten kaum beizukommen. Vielleicht ist das dem Komponisten Heinz Holliger möglich: Sein Violinkonzert ist eine Hommage an den Geiger, Schüler Eugène Ysaÿes, zeitweise Violinist in Genfer und Lausanner Orchestern, auch unter Ernest Ansermet.
Von Morges über die USA nach Bellaigues
Und Michel Layaz? Hunderte von Zeichnungen schuf Louis Soutter, von den meisten belächelt oder verachtet, in der Abgeschiedenheit des letzten Jura-Winkels, im Altersheim in Ballaigues (Waadt). Zuerst zeichnete er mit Bleistift oder Feder, dann mit in die Tusche getauchtem Finger. Mit ihnen wurde Soutter berühmt. Sie spielen natürlich eine zentrale Rolle in Layaz’ Buch. Doch „Louis Soutter, sehr wahrscheinlich“ bettet dieses einzigartige Werk ein in die Künstler-Biographie und lässt es herauswachsen aus diesem widersprüchlichen und zutiefst tragischen Dasein, das den Künstler selber, aber auch seine Umgebung in hohem Masse überforderte. Layaz tut dies in einer bilderreichen farbigen Sprache, die manchen Interpretationsspielraum offenlässt, die aber auch, ohne jemanden zu verurteilen, von Anteil- und Parteinahme geprägt ist.
Louis Soutter entstammte einer kultivierten Familie in Morges, studierte in Brüssel Violine, später in Genf Malerei, zog 1897 nach Colorado Springs (USA), wo er das Art Department des Colorado College gründete und sich verheiratete. 1903 brach er die Karriere unvermittelt ab, reiste allein in die Schweiz zurück, spielte in Orchestern, führte einen aufwändigen Lebensstil, den er nicht finanzieren konnte, liebte teure Anzüge, liess sich von der Familie aushalten, wurde zunehmend ein Vagabund und verhaltensauffällig. Er kam unter Vormundschaft und wurde 1923 gegen seinen Willen ins Altersheim von Bellaigues eingewiesen, wo er unter beengenden und armseligen Verhältnissen bis zum Tod 1942 lebte.
Prägende Erlebnisse
Michel Layaz erzählt all das chronologisch in auf wesentliche Aspekte von Soutters Dasein zugespitzten Etappen. Eine erste betrifft die Jugend in Morges, zwei weitere die Zeit in den USA. Dann geht es um die Rückkehr, die missglückte Teilnahme Soutters an der Nationalen Kunstausstellung in Lausanne, um erste Bemühungen der Familie, Louis’ Verhaltensauffälligkeiten zu mildern, um den Tod der Lieblingsschwester Jeanne.
Prägend für Louis Soutter ist das Erlebnis der Uraufführung von Strawinskys „L’histoire du soldat“ in Lausanne (1918), prägend darum, weil die Geige in diesem Stück für den Soldaten eine ebenso wesentliche Rolle spielt wie für Soutter selber. Als folgenreich schildert Layaz auch eine Episode in Payerne: Louis nächtigt auf einer seiner ausgedehnten Wanderungen in der Abbatiale, deren visionär erlebte romanische Architekturplastik sich in Soutters kreativer Phantasie festsetzt. Die dürr-trockene Direktorin des Asyls in Ballaigues will die Insassen „sittlich im Griff“ behalten und Louis’ auf unendlich weitschweifigen Wanderungen ausgelebten Freiheitsdrang – erfolglos – zurückstutzen.
„Ich bin Louis, ein verlorener Mensch“
Behutsam führt Michel Layaz aber auch einige Menschen ein, die Louis mit Wohlwollen und Verständnis begegnen, und die auch seinen von vielen als Ausgeburten des „pornographe fou“ verschrienen, tatsächlich chaotisch aufbrechenden Zeichnungen etwas abgewinnen können – wie der Dorfmetzger Barras, der rundweg eingesteht, dass auch seine Träume von verführerischen Frauen bevölkert sind, wie die Postangestellte Adeline, die ihm Tinte zur Verfügung stellt, wie das Mädchen aus gutbürgerlicher Musiker-Familie. Louis begrüsst das engelsgleiche Wesen mit den Worten „Ich bin Louis, ein verlorener Mensch“.
Unter den Menschen, die wohlwollenden, wenn auch spärlichen Kontakt mit ihm pflegen, finden sich auch Künstler wie sein Cousin Le Corbusier und René Auberjonois, Schriftsteller wie der Franzose Jean Gino, der für teures Geld einige Zeichnungen Louis’ erwirbt. Da ist auch der Maler Marcel Poncet, den Louis „um seine frohgemute Hoffnungslosigkeit“ beneidet, oder der exzentrische und ungestüme Franzose Pierre Romain-Desfossée, der 1937 Louis in Lausanne eine (erfolglose) Ausstellung ausrichtet.
„Si le soleil ne revenait pas“
Beziehungsfäden spinnt Layaz auch zu Charles-Ferdinand Ramuz, dessen Roman „Si le soleil ne revenait pas“ (1937) Louis zu illustrieren versucht. Michel Layaz setzt diese Geschichte gegen Ende des Romans geradezu leitmotivisch ein – als Zeichen der Hoffnung: Ramuz’ Roman, den Claude Goretta 1987 in dunklen Bildern verfilmte, handelt von einem Walliser Bergdorf, das in den Wintermonaten in totalem Schatten liegt. Im Jahr des spanischen Bürgerkriegs sagt der uralte Anzévui voraus, dass die Sonne nicht wiederkehren wird. Das Dorf versinkt in Trauer, Angst und Verzweiflung, aber es gibt auch jugendliches Hoffen – und ein Aufbrechen von Lebensfreude und Vitalität, als die Sonne schliesslich enthusiastisch begrüsst wird, während Anzévui in seiner Kammer stirbt.
Als Schlüsselerlebnis Soutters schildert Layaz die Begegnung mit zwei Kindern im Schwimmbad Bellerive-Plage in Lausanne: Die Mädchen zeichnen mit ins Wasser getauchten Fingern auf Stein, wo die Zeichnung alsogleich verschwindet. Auch Soutter nutzt am Lebensende wegen schwindender Sehkraft die in Tusche oder Ölfarbe getauchten Finger als „Pinsel“. Layaz lässt die schwarzen Schreckensbilder und Totentanz-Visionen unmittelbar aus dem ausgemergelten schwachen Körper des gebeutelten und vereinsamten Künstlers auf den Malgrund fliessen.
Roman, keine Wissenschaft
„Louis Soutter, sehr wahrscheinlich“ ist ein Roman, kein wissenschaftlich untermauertes Sachbuch und keine kunsthistorische Fachpublikation, die Thesen formuliert und diskutiert – etwa die Schlüssigkeit der Anwendung des Art-brut-Begriffs auf Soutter, der weder naiv noch Autodidakt noch geisteskrank war. Er war wohl in verschiedener Hinsicht ein Aussenseiter, doch gleichzeitig hoch gebildet, belesen, informiert.
Ein Roman muss nicht historisch genau sein, wohl aber stringent in der künstlerischen Argumentation. Das gelingt Michel Layaz ausgezeichnet. Ob sich alle Details, die dem Bild Soutters Profil und Farbe geben, belegen lassen, ist nicht zentral. Der Autor hat sich aber mit Michel Thévoz, dem besten Kenner von Soutters Werk, ausgetauscht. Das kann schon Gewähr bieten, dass das Buch im Ganzen seine Richtigkeit hat. Und: Was nicht belegt ist, muss nicht falsch sein. Auch die Phantasie des Autors, der sich behutsam und mit hoher Sensibilität den Werken Soutters näherte, hat ihre Wahrheit.
Der letzte Satz in Michel Layaz‘ Buch über Louis Soutter handelt von dem, „was wir Freiheit nennen“: Es sei bloss „eine Illusion, die nur schlecht unsere Mängel, unsere Desaster, unsere kleinen Übereinkünfte maskiert; unseren allgemeinen, schmerzlichen, lebenslänglichen Freiheitsentzug, hätte er gemurmelt, Louis Soutter, sehr wahrscheinlich“.
Was paradox erscheint und zugleich schlüssig ist: Dass Louis Soutter seiner persönlichen Freiheit beraubt wurde, setzte seine inneren Visionen in einer Art frei, dass sie auch 80 Jahre nach dem Tod des Künstlers nichts an ihrer irritierenden Kraft und an ihrer überzeitlichen Aktualität verloren haben.
Michel Layaz: Louis Soutter, sehr wahrscheinlich. Roman. Aus dem Französischen von Yla M. von Dach. 246 Seiten. Verlag die Brotsuppe, Biel. 2020. 28 Franken.