Viele haben in «Die Selbstgerechten» eine Abrechnung mit gegenwärtiger linker Politik gesehen. Das ist dieses Buch zweifellos auch, und Beobachter der deutschen Szene glauben selbstverständlich, die persönlichen Gründe der Autorin für ihre vehementen publizistischen Angriffe ganz genau zu kennen. Auch wenn Sahra Wagenknecht auf aktuelle parteipolitische Machtkämpfe und Positionsbezüge im linken Spektrum reagiert, ist es doch viel interessanter, ihr neues Buch hauptsächlich als programmatische Skizze für eine linke Politik im 21. Jahrhundert zu lesen. Der Untertitel «Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt» legt dies jedenfalls nahe.
Wie es sich für Programmschriften gehört, leistet das Buch zwei Dinge. Erstens liefert es die Analyse gesellschaftlicher Zustände mit einer Diagnose der Ursachen von Problemen und Fehlentwicklungen. Zweitens zieht es daraus Konsequenzen in Form von Vorschlägen für Kurskorrekturen und neuen Grundlagen für Politik und Wirtschaft.
Der zweite Teil ist ein schlüssiger programmatischer Wurf, der sich nicht scheut, das Konzept Marktwirtschaft radikal anders zu denken – dies allerdings gestützt auf Theorietraditionen unter anderem des Ordoliberalismus eines Walter Eucken und seiner Freiburger Schule. Hier bleibt die Autorin bei ihren schon vor fünf Jahren in «Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten» entwickelten Vorstellungen.
Unklarheiten beim Begriff «linksliberal»
Der analytische erste Teil präsentiert sich teils als angriffiges Pamphlet gegen verblendete politische Haltungen, teils als kraftvolle Zustandsbeschreibung einer aus dem Ruder laufenden Globalisierung. Mit der erfrischenden Polemik wäre allerdings mehr anzufangen, hätte Sahra Wagenknecht sich nicht in einem Begriffswirrwarr verfangen. Als ihre Gegner im linken Politspektrum identifiziert sie die «Linksliberalen». Zwar macht sie selbst mehrfach darauf aufmerksam, der Begriff sei missverständlich, falsch und eigentlich ganz unsinnig – aber halt leider in Gebrauch für jene Szene der identitätspolitisch agierenden Gruppierungen, um die es ihr geht.
In der Tat war «linksliberal» zumindest im deutschen Sprachgebrauch bisher die Bezeichnung etwa für Sozialdemokraten mit einer stark liberalen Seite oder für Freisinnige mit ausgeprägt sozialpolitischer Ader. Neuerdings jedoch bezeichnet der Begriff «linksliberal» den von amerikanischen Universitäten ausgehenden und stets weitere Kreise ziehenden Diskurs, der immer neue Gruppen von Benachteiligten mittels Sprachregulierung und Abschottung zu vertreten und zu schützen vorgibt. Sahra Wagenknecht versucht der Verwirrung vorzubeugen, indem sie für dieses historisch junge Phänomen auch den Ausdruck «Lifestyle-Linke» verwendet – ein Etikett, das sich für die Polemik gegen ausartende Identitätspolitik zwar prima eignet, aber kaum für die Gesamtheit der vielfältigen neulinken Bewegungen passt.
Heikler Punkt der linken Szene
Mehr begriffliche Klarheit hätte sicherlich helfen können, die Differenzierung, die Wagenknecht im eigenen Lager vornimmt, deutlicher herauszuarbeiten. Ihre Analyse trifft die linke Szene an einem heiklen Punkt und hat denn auch erhebliche Aufregung verursacht. Wagenknecht argumentiert nämlich, die Verlagerung eines Teils der Linken zu Sprach- und Symbolpolitik sei ein rein akademisches Projekt, mit dem die zunehmend aus Hochschulabsolventen zusammengesetzte linke Szene sich von den wirklich Benachteiligten faktisch distanziere. Es fehlt der Autorin nicht an Beispielen, welche die so Kritisierten gewiss schmerzhaft treffen.
Es ist eine der Stärken von Wagenknechts neuem Buch, dass es den Fokus auf die tatsächlich Ausgebeuteten, Benachteiligten und Ausgegrenzten unserer Zeit legt. Zu ihnen gehören ebenso diejenigen in den Ländern des Südens, die nicht auswandern und die Schwächung ihrer Gesellschaften durch Migration erfahren müssen, wie die Unterschichten in reichen Ländern, die den Druck der Zuwanderung zu spüren bekommen. Prekäre Anstellungsverhältnisse, Wohnungsnot und fehlende Perspektiven haben die Lebensbedingungen der untersten und zum Teil sogar auch der mittleren Schichten verschlechtert. Die Vorteile der Globalisierung kommen bei diesen Menschen gar nicht an; umgekehrt sind sie aber diejenigen, bei denen die Nachteile der Entgrenzung voll einschlagen.
Rechte Politik unter linkem Deckmantel?
An einem Zurück von der Globalisierung führt, so Sahra Wagenknechts Befund, kein Weg vorbei. Der Nationalstaat ist in ihrer Sicht die entscheidende Entität für die Gestaltung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse und für den Schutz der Menschen. Selbstverständlich sollen die Staaten weiterhin und in manchen Belangen vermehrt zusammenarbeiten. Doch den Träumen von der Auflösung des Nationalen in supranationale Gebilde hinein erteilt sie eine klare Absage. Auch für die in linken Kreisen kursierenden Vorstellungen von gänzlich offenen Grenzen und Bleiberechten für alle hat sie wenig übrig. Ihr entschiedenes Nein zu solchen Utopien hat ihr bei einigen den Ruf eingetragen, unter linkem Deckmantel rechte Politik zu betreiben.
Mit solchem Unsinn wird die gelernte Ökonomin rasch fertig: Die Solidarordnung eines Sozialstaats ist nur bei definierter Zugehörigkeit aufrechtzuerhalten. Entfallen die Bedingungen für Ansprüche auf Solidarleistungen, so sind diese nicht nachhaltig finanzierbar – eine Überlegung, die nicht sonderlich voraussetzungsreich ist.
Linksliberal und neoliberal friedlich vereint
Argumentativ komplexer ist da schon der Gegenangriff der Autorin auf diejenigen, die sie in die rechte Ecke zu stellen versuchen. Sie konstatiert nämlich eine überraschende Koinzidenz zwischen den neuen sogenannten Linksliberalen und dem globalisierungs- und deregulierungsfreundlichen Neoliberalismus.
Tatsächlich werten beide die herkömmlichen Orientierungsgrössen der Nation, der Heimat, der Familie und der Tradition allgemein ab und halten an deren Stelle die Werte des Individualismus und der Selbstverwirklichung hoch. Was den neuen Linksliberalen heilig ist und in Sprache und Symbolik herausgestellt wird – ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, sexuelle Orientierung – das kommt den neoliberalen Konzepten auffälligerweise nirgends in die Quere. Vielmehr lenkt Identitätspolitik die Aufmerksamkeit weg von den realen gesellschaftlichen Verhältnissen, dafür aber umso hingebungsvoller hin zu Quoten und Diversity. Letztere wird übrigens einseitig an Ethnie und Gender festgemacht. Für tatsächliches soziales Gefälle und reale politisch-ökonomische Macht scheint den neo-links Bewegten der Blick zu fehlen.
Sahra Wagenknecht hat ein temperamentvolles, dicht argumentierendes und dabei sehr gut lesbares Buch vorgelegt, das im konzeptionellen Teil dem im Vorgänger von 2016 vorgezeichneten Pfad folgt und dabei die Gestaltungsideen da und dort nochmals etwas genauer skizziert. Ob man ihren Überlegungen immer beipflichtet oder nicht: «Die Selbstgerechten» ist ein gekonnt arrangiertes Bukett von Analysen, Vorschlägen und Perspektiven. Wer das Buch nur als Abrechnung unter Linken sehen will, verpasst das Beste daran.
Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Campus Verlag 2021, 345 S.