Was es bedeutet, seiner Ermordung ins Auge zu sehen, kann sich niemand vorstellen. Diese Erfahrung ist jenseits der Mitteilbarkeit. Jedes Wort ist zu schwach, jedes Bild unzureichend.
Dämonen der Vergangenheit
Eines ist sicher: Ein Leben nach dieser Art der Todeserfahrung kann nie ganz gelingen. Selbst wer die grössten Schrecken und Entbehrungen überlebt hat, bleibt gezeichnet. Die Dämonen der Vergangenheit geben nie Ruhe.
Die Fotografin Helena Schätzle ist in diese Welt eingetaucht. Sie hat Überlebende des Holocaust sprechen lassen und sie hat sie fotografiert. Daraus wurde eine Ausstellung in Berlin, veranstaltet von der Hilfsorganisation Amcha. Aussenminister Frank-Walter Steinmeier war bei der Eröffnung dabei und hat dem vorliegenden Bildband ein Begleitwort gewidmet.
Wie in Kristall gegossen
Es ist, als wollten die Fotografin und der Verlag ganz besonders die eiligen Betrachter und Leser gewinnen. Schon die ersten Landschaftsbilder aus Israel sind still und bezwingend. Sie drücken etwas schwer zu Begreifendes aus: Oase, Erlösung? Nach der ersten Fotosequenz von älteren Überlebenden und ihren Familien folgen kurze Texte – Schreie aus dem Dunkel.
Ob man will oder nicht: Man verharrt. Man muss diese kurzen Texte lesen, in denen das Entsetzen und der Kampf um das nackte Überleben wie in Kristall gegossen zu sein scheinen. Das sind Inschriften des Lebens, wie sie nur am Rande des alles verschlingenden Abgrunds entstehen können. Diese Texte haben nichts Tröstliches.
Heute leben noch 193'000 Überlebende allein in Israel. Gibt es Trost nach der Trostlosigkeit? Helena Schätzle gelingt es, mit ihren Bildern dieses Schweben über dem Abgrund der Vernichtung auch nach dem Überleben zum Ausdruck zu bringen. Es gibt Glück, ja natürlich – mit Kindern, Enkeln und so weiter – aber der Schatten der Vergangenheit liegt über allem.
„Wir sind davongekommen“, aber dem Schicksal im tiefsten seelischem Sinne ist niemand entronnen. Davon erzählen diese Bilder. Helena Schätzle verleiht dem Insularen dieses unwahrscheinlichen Überlebens Ausdruck. Es ist schön dort in Israel, aber es fehlt die Weite.
Die Texte im mittleren Teil des Buches handeln vom Leben in Israel. Genauer: vom posttraumatischen Überleben, wobei die Traumata immer noch die seelische Tagesordnung bestimmen. Körper überleben leichter als Seelen.
Am Ende des Buches stehen Biographien und die Rede, die Aussenminister Frank-Walter Steinmeier zur Eröfffnung der Ausstellung in Berlin gehalten hat. Darin würdigt er besonders die Hilfsorganisation Amcha, in deren Auftrag das ganze Projekt realisiert wurde.
Leben nach dem Überleben. Devoted to Life. Mit einer Einleitung von Frank-Walter Steinmeier. Herausgegeben von Helena Schätzle und AMCHA Deutschland. Texte auf Deutsch, Englisch und Hebräisch. 400 Seiten mit 200 Abbildungen, Nimbus. Kunst und Bücher, Wädenswil am Zürichsee 2016