Mit einer emotionalen Gedenkfeier wurde im vergangenen Januar an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erinnert. Zweihundert Überlebende waren gekommen – ebenso die Staatspräsidenten von Israel, Polen, Deutschland und der Ukraine sowie der Präsident des Jüdischen Weltkongresses. Auch Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga war dabei. Sie bezeichnete den Besuch als „erschütternd“. Die Vernichtungsstätten im Süden Polens sind zum Synonym des Nazi-Horrors und des Holocaust geworden.
Doch es gibt nicht nur Auschwitz. Im April und Mai 1945 wurde über ein Dutzend weiterer Konzentrationslager befreit: unter anderen Buchenwald, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Neuengamme, Flossenbürg, Dachau, Ravensbrück, Mauthausen und Stutthof.
„Das grausamste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit“
Insgesamt starben dort über 600’000 Menschen. Auch in diesen ehemaligen Lagern waren Gedenkfeiern geplant. Viele der wenigen Überlebenden wollten anreisen, um – vielleicht ein letztes Mal – an „das grausamste Verbrechen in der Geschichte der Menschheit“ zu erinnern, wie Polens Präsident Andrzej Duda den Holocaust nannte.
Doch daraus wird nichts. Corona verdrängt alles. Die Mahnstätten sind geschlossen, die Überlebenden werden nicht kommen, die Staatschefs auch nicht. Wegen des Corona-Virus und des Versammlungsverbots findet nur ein eingeschränktes Gedenken statt – sehr zur Genugtuung der Geschichtsrevisionisten, die den Holocaust als „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte bezeichnen.
Gedenken im Internet
„Schon vor Wochen haben wir die Gedenkfeierlichkeiten absagen müssen, um die hochbetagten Überlebenden der Lager nicht auf ihren Reisen zu gefährden“, erklärt Rikola-Gunnar Lüttgenau gegenüber Journal21. Lüttgenau ist Kommunikations- und Medienchef der „Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora“. In den beiden Lagern bei Weimar starben etwa 76’000 Menschen. Jetzt werden am 11. April, dem Tag der Befreiung, Kränze verschiedener Nationen niedergelegt.
Das Gedenken weicht ins Internet aus. Eine Webseite wird in deutscher, englischer, französischer, polnischer und russischer Sprache aufgeschaltet. Sie enthält neben den ursprünglich geplanten Reden auch Statements ganz unterschiedlicher Menschen. Zudem werden am 11. April in Thüringen an den Fassaden von Museen, Kirchen und Theatern grosse Banner aufgehängt. So soll dokumentiert werden, erklärt Lüttgenau, dass wir „den Jahrestag als Gedenktag und als Institution weiterhin ernst nehmen und begehen“.
Verblassende Erinnerung?
Auch Dachau muss ins Internet ausweichen. Eine für den 3. Mai geplante zentrale Gedenkveranstaltung findet nicht statt. Auf der Homepage der Gedenkstätte werde „eine Gedenkseite mit Videobotschaften und schriftlichen Botschaften von Überlebenden und Befreiern des KZ“ aufgeschaltet, erklärt Martina Venter von den KZ Gedenkstätten Dachau gegenüber Journal21. Eine geplante Begegnung zwischen Jugendlichen, Überlebenden und Befreiern entfällt. Dachau war am 29. April von amerikanischen Truppen befreit worden. Schätzungsweise 41’500 Menschen waren dort gestorben.
Also: keine öffentlichen Feiern, keine Besuche von Staatschefs und Ministerpräsidenten, keine Sondersendungen im Fernsehen, keine grössere Berichterstattung in den Zeitungen. Der 75. Jahrestag der Befreiung von Buchenwald, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Dachau etc. wäre ein Anlass gewesen, gebührend an das zu erinnern, was Historiker „die Hölle auf Erden“ nennen. Das Internet ist nicht zu unterschätzen, doch es ersetzt „richtige“ Gedenkfeiern nicht. Sie hätten dazu beigetragen, dass das nicht eintritt, was einige befürchten: dass die Erinnerung an die KZ-Grausamkeiten langsam verblassen.
Befreiung von KZs in den letzten Kriegsmonaten 1945 (Auswahl)
(Datum der Befreiung, Ort, Zahl der Todesopfer)
27. Januar: Auschwitz-Birkenau: 1,1 bis 1,5 Millionen
11. April: Buchenwald, 56’000
11. April: Mittelbau-Dora, 20’000
15. April: Bergen-Belsen, 70’000
22./23. April: Sachsenhausen, 30’000-40’000
23. April: Flossenbürg, 30’000
Ende April: Neuengamme, 55’000
29. April: Dachau, 41’500
30. April: Ravensbrück, 28’000
5. Mai: Mauthausen (inkl. Gusen), 100’000
9. Mai: Stutthof, 65’000
Panik
Anfang Januar 1945 sahen auch die eingefleischtesten Nazis langsam ein, dass der Krieg verloren war. Amerikaner, Briten und Sowjets rückten von Westen und Osten dem übriggebliebenen Nazi-Reich immer näher. Auf ihrem Weg dorthin lagen viele Konzentrationslager. Sie standen unter dem Befehl der SS von Heinrich Himmler.
Jetzt gerieten die Lager-Betreiber in Panik. In aller Eile wurden viele KZ geräumt, zum Teil zerstört und in Brand gesteckt. Belastende Spuren wurden beseitigt: Dokumente und Folterinstrumente. Selbst Gaskammern und Galgen wurden abgebaut.
Die Häftlinge sollten jetzt in anderen Konzentrationslager, die sich in der Reichsmitte, im „alten Deutschland“, befanden, untergebracht werden. Um dort hinzugelangen wurden sie zu Märschen gezwungen, die man schon bald als „Todesmärsche“ bezeichnete.
Todesmärsche
Hunderttausende wurden in Marsch gesetzt. Zu Fuss gingen sie bei teils klirrender Kälte über vereiste Strassen oft über hundert Kilometer weit. Andere wurden in Züge und auf Lastwagen gepfercht. Nur wenige erhielten Lebensmittel. Zehntausende starben an Hunger oder Entkräftung – oder sie wurden von der SS erschossen. Wer aus Erschöpfung nicht mehr weiterkonnte, wurde liquidiert. Die Strassen, auf denen die Trecks daherzogen, waren gesäumt mit Leichen. Die „Enzyklopädie des Nationalsozialismus“ spricht von „unerträglichen Bedingungen und brutalen Misshandlungen“. Tausende deutscher Bürgerinnen und Bürger beobachteten die vorbeiziehenden Trecks halbtoter Gestalten – und schwiegen.
Einige Gefangene starben durch alliierte Bombardements. Am 3. Mai 1945, vier Tage vor Kriegsende, bombardierten britische Kampfflugzeuge die deutschen Schiffe Thielbek und Cap Arcona. 7’100 Menschen kamen ums Leben, davon 6’600 Häftlinge, die aus dem Lager Neuengamme bei Hamburg auf die Schiffe gezwungen wurden.
„Das Schauerlichste der Weltgeschichte“
Jene, die die Märsche überlebten, gelangten jetzt in die bereits überfüllten Lager in der Reichsmitte. In den ersten Monaten des Jahres 1945 sahen die Häftlinge im KZ Bergen-Belsen, „wie endlose Reihen leichenhafter Männer, Frauen und Kinder in ihr Lager marschierten“, schreibt der deutsche Historiker Nikolaus Wachsmann. In acht Wochen vergrösserte sich das Lager um mehr als das Doppelte. Die KZ waren nun überfüllt mit „elenden Gestalten“ und „halbtoten Männern“. Überall herrschte ein „Gestank von Verwesung und Tod“.
Wachsmann zitiert den holländischen Zionistenführer Abel Herzberg: „Was hier geschieht, ist das Schauerlichste in der ganzen Weltgeschichte.“ Es fehlte an Essen. Häftlinge fielen übereinander her, um zu Essensresten zu gelangen. Im KZ Ebensee, einem Nebenlager des KZ Mauthausen, musste sich ein Mitarbeiter der Lagerleitung übergeben, weil er zu viel Gulasch gegessen hatte. Ein ausgehungerter russischer Gefangener machte sich über das Erbrochene her.
Um den Überbelegungen der Lager Herr zu werden, wurden Tausende Häftlinge erschossen oder vergast.
„Es lässt sich unmöglich sagen, wie viele Gefangene zwischen Januar und Anfang Mai 1945 bei den Räumungen der Konzentrationslager umkamen“, schreibt Wachsmann. „Doch ein Schätzwert von ... um die 300’000 Männer, Frauen und Kinder liegt wahrscheinlich nicht weit daneben.“
Die Krematorien arbeiteten zum Teil Tag und Nacht. Trotzdem wuchsen die Leichenberge in den Lagern. „Schätzungsweise 450’000 Gefangene überstanden diese letzte Katastrophe“, schreibt Wachsmann.
KZ Buchenwald bei Weimar (Thüringen)
Buchenwald war eines der grössen KZ auf deutschem Boden. Am 15. März 1945 waren hier 106’421 Häftlinge registriert.
Die Zahl der Todesopfer wird auf 56’000 geschätzt.
Als sich die 3. US-Armee dem KZ näherte, übernahmen die Häftlinge die Macht. 125 SS-Leute wurden festgenommen, die anderen flohen. Jetzt öffneten die Gefangenen die Tore und hissten die Weisse Flagge. So entstand der Mythos von der „Selbstbefreiung“. Laut der DDR-Propaganda gab es kommunistische Zellen im Lager, die das Lager schliesslich „befreit“ hätten. Doch in Wirklichkeit waren diese Zellen weit weniger bedeutend, als es die DDR-Geschichtsschreibung suggerierte.
KZ Bergen-Belsen (nördlich von Hannover)
Die Bilder aus dem KZ Bergen-Belsen gehören zu den schrecklichsten des Holocaust. In keinem anderen KZ starben so viele Häftlinge an Krankheit und Entbehrung wie in Bergen-Belsen. Hier kamen auch die 15-jährige Anne Frank und ihre Schwester Margot ums Leben.
Das KZ wurde am 15. April 1945 den anrückenden britischen Truppen kampflos übergeben. Zuvor hatten die SS und die britischen Truppen einen Waffenstillstand geschlossen. SS-Chef Heinrich Himmler hatte einer kampflosen Übergabe des Lagers zugestimmt. Im Gegenzug wurde ihm der freie Abzug der Angehörigen der Wehrmacht versprochen. Was als grosszügige Geste Himmlers aussah, hatte praktische Gründe. Er wollte verhindern, dass das Fleckfieber, das im Lager grassierte, sich unter den Truppen und der Bevölkerung ausbreitet. Nach der Befreiung entdeckten die Briten 13’000 Leichen, die abgemagert und unbekleidet verstreut auf dem Boden herumlagen.
Der britische Militärarzt Hugh Llewellyn Glyn Hughes schrieb: „An zahlreichen Stellen (des Lagers) waren die Leichen zu Stapeln von unterschiedlicher Höhe aufgeschichtet ... Überall im Lager lagen verwesende menschliche Körper ... (Die Baracken) waren überfüllt mit Gefangenen in allen Stadien der Auszehrung und der Krankheit.“
KZ Sachsenhausen (nördlich von Berlin)
Im KZ Sachsenhausen nördlich von Berlin wurden etwa 200’000 Häftlinge inhaftiert. Das KZ wies eine Genickschussanlage auf, mit der bis zu 18’000 sowjetische Kriegsgefangene exekutiert wurden. Am 22. und 23. April erreichten sowjetische und polnische Truppen das Hauptlager. 3’000 zurückgebliebene Gefangene wurden befreit.
In einem Aussenlager von Sachsenhausen hatte eines der grössten Massaker stattgefunden. 1’300 gebrechliche Häftlinge wurden von SS-Freiwilligen erschossen. „Wir gehen zum Judenschiessen, dafür kriegen wir Schnaps“, zitiert Nikolaus Wachsmann einen Täter.
KZ Dachau (nordwestlich von München)
Das KZ Dachau nordwestlich von München wurde kurz nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 errichtet. Es war bis Kriegsende, also zwölf Jahre lang, ununterbrochen in Betrieb. Das KZ war kein Vernichtungslager wie Auschwitz, doch wurden hier Tausende politische Morde verübt. Insgesamt waren in Dachau über 200’000 Menschen inhaftiert, 41’500 starben. Amerikanische Truppen befreiten am 29. April 1945 das Lager, in dem sich noch 32’000 Häftlinge befanden.
KZ Ravensbrück (im Norden Brandenburgs)
Das nördlich von Berlin liegende KZ Ravensbrück war das grösste Frauen-KZ. 133’000 Frauen, weibliche Jugendliche und Kinder waren hier und im danebenliegenden KZ Uckermark interniert, ebenso 20’000 Männer. Die Insassen mussten Zwangsarbeit für die nahen Siemens-Werke leisten.
Auch medizinische Experimente wurden an den Frauen durchgeführt. So wurde Petrol in ihre Venen gespritzt. Vermutlich 28’000 Häftlinge starben. Noch im Januar 1945, vier Monate vor dem Zusammenbruch des Nazi-Reichs, liess Himmler hier Gaskammern bauen. Allein in einer Woche wurden 2’500 Frauen vergast.
Russische Soldaten „wie Tiere“
Die britische Autorin und Journalistin Sarah Helm spricht von Frauen, die lebend ins Krematorium gesteckt wurden. Im April 1945 befreite die Rote Armee das Lager. Angehörige der Roten Armee hatten, laut Recherchen von Sarah Helm, viele der hungernden Frauen vergewaltigt, „sogar Russinnen“, die im Lager gefangen gehalten wurden. „Zuerst begrüssten sie uns als Schwestern“, zitiert Helms die Russin Nadia Vasilyeva, eine ehemalige Gefangene. „Dann verwandelten sie sich in Tiere.“
Eine andere russische Gefangene wird zitiert: „Die Deutschen vergewaltigten uns nie, weil wir für sie russische Schweine waren, aber unsere eigenen Soldaten taten es.“
Untergang
Zwischen Januar und März 1945 kamen 150’000 KZ-Häftlinge ums Leben. Anfang April betrieb die SS noch immer zehn KZ mit vierhundert Satelliten. In ihnen vegetierten fünfeinhalb Millionen Häftlinge. 35’000 SS-Leute hatten in den Lagern Dienst getan. Doch dann im April begannen sich die KZ aufzulösen.
In diesen dramatischen Tagen reagierten die Deutschen überstürzt, panikartig und oft kopflos. Einige Lagerchefs wollten die Häftlinge in eine Alpenfestung auf österreichischem Boden verfrachten – eine Festung in Tirol, die es gar nicht gab.
Zyankali
„Der berüchtigtste Schlächter NS-Europas“ („Time“) wollte seine Haut retten und arbeitete seit längerem an einer Ausstiegsstrategie. Das Bild des deutschen Bundesarchivs (Bild 183-L24943) zeigt Heinrich Himmler 1941 an der Ostfront. Er biederte sich dem Westen an und hoffte nach der Niederlage um gnädige Behandlung. So unterstützte er die Freilassung einiger Juden. Doch die meisten behielt er als „Pfand“ für mögliche spätere Verhandlungen mit den Westmächten. Historiker sprechen davon, dass Himmler sogar den Befehl gegeben haben soll, die Vernichtung von Juden einzustellen. „Falls ein solcher Befehl wirklich existierte“, schreibt der Historiker Wachsmann, war er „nichts mehr als Augenwischerei“. In Wirklichkeit hielt Himmler bis zuletzt an der „Endlösung“ fest. Hinter Hitlers Rücken unterbreitete er den Westmächten ein geheimes Kapitulationsangebot. Als Hitler davon erfuhr, kriegte er einen Wutanfall und schloss ihn aus der Partei aus. Am 23. Mai 1945 biss Himmler in britischer Gefangenschaft auf eine Zyankali-Kapsel.
Viele der Lagerführer wechselten jetzt ihre Kleidung, verschafften sich falsche Papiere – und verschwanden.
Hitler hatte sich am 30. April 1945 erschossen, Generaloberst Alfred Jodl unterzeichnete am 7. Mai die bedingungslose Kapitulation der deutschen Truppen. Am 8. Mai 1945 ging der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende. Das Corona-Virus hindert uns daran, auch diesem Ereignis öffentlich zu gedenken.
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Die KZ-Gedenkstätten sind wegen des Corona-Virus geschlossen. Die Erinnerungsfeiern sind abgesagt. Verblasst deswegen das Gedenken an die Grausamkeiten in den KZ?
Deutschland, das seine Vergangenheit wie kein anderes Land schonungslos und minutiös aufgearbeitet hat, tut viel, damit der Nazi-Horror nicht vergessen wird. Die KZ-Mahnstätten werden immer häufiger besucht, vor allem auch von Schülerinnen und Schülern. Nach Angaben des Evangelischen Pressedienstes besuchten 2018 2,5 Millionen Menschen die ehemaligen Konzentrationslager. Allein in Dachau waren es 900’000. Tendenz steigend.
Literatur:
- Nikolaus Wachsmann: „Kl – Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“. Siedler, München, 2016
- Sarah Helm: „If This Is A Woman: Inside Ravensbruck: Hitler's Concentration Camp for Women“. Hachette UK, 2015
- Wolfgang Benz, Hermann Graml, Hermann Weiss: „Enzyklopädie des Nationalsozialismus“. Klett-Cotta, Stuttgart, 2007 (überarbeitete Ausgabe von 1997)