Der Kern der Horrornachrichten der letzten 12 Monate liegt darin, dass die völkerrechtlichen Spielregeln der Nachkriegszeit nicht mehr gelten und der politische Code des Westens zerbrochen ist.
Kein Zusammenhalt
In der Ukraine tobt ein Krieg, der nicht so genannt und beschrieben werden darf. In Syrien wird dem Westen demonstriert, was es heisst, „vor den Augen der Weltöffentlichkeit“ Waffengewalt und Terror auszuüben, ohne die geringste Rücksicht auf Kriegsrecht und Humanität zu nehmen.
Und Europa hat sich selbst paralysiert: Die südlichen Ränder taumeln von einer Krise in die nächste, während mit England einer der wichtigsten Pfeiler der Europäischen Union weggebrochen ist. Es gibt keinen politischen Zusammenhalt mehr, und die Finanzkrise löst wie ein stark wirkendes Gift jedes politische Ethos der Selbstverpflichtung auf.
Putin und Trump
Der zunehmenden Labilität in Europa entspricht in den USA der Kontrollverlust auf der obersten Führung: Der voraussichtlich neue Präsident bietet das Ordinärste an amerikanischer Subkultur und entpuppt sich als Marionette östlicher Geheimdienste. Er ist so inkompetent, dass es schon keine Rolle mehr spielt, ob Putin oder andere die Fäden ziehen. Trump verkörpert den Kontrollverlust, den jeder Verzicht auf Anstand und Vernunft in der Politik bedeutet.
Gegenüber Trump erscheint Putin als der rationalere und somit verlässlichere Machthaber. Aber warum sollte er im Interesse der Westeuropäer handeln? Seine geistlichen Führer der „Russisch-Orthodoxen Kirche“ werden ihm ganz sicher nicht dazu raten. Sie hassen die „westliche Dekadenz“. Seine eigenen Erfahrungen mit der westlichen Arroganz und Selbstgefälligkeit bestätigen sie. Hat Europa ein starkes Argument, ihn zurückzugewinnnen?
Der Strohhalm
Ist es ausgerechnet Trump, der mit seinem designierten Aussenminister Rex Tillerson für gut Wetter sorgen könnte? Man kann sich selbst dabei ertappen, hierin einen letzten Strohhalm zu sehen. Barack Obama hat ganz sicher einen grossen Fehler gemacht, indem er Putin seine ganze Verachtung hat spüren lassen. Aber wir leben doch in Zeiten, in denen die Schicksale ganzer Erdteile nicht allein von den Emotionen der gerade Mächtigen abhängen sollten. Wir sind schliesslich aufgeklärt. Und unsere Staatsform nennt sich „parlamentarische Demokratie“.
Die Rechnungen der Vernunft aber haben inzwischen wackelige Fundamente. Es ist eben nicht so, dass sich weltweit die westliche Demokratie mit ihren Prinzipien der Freiheit und Selbstbestimmung durchgesetzt hätte. Schaut man auf den Globus, so ist sie eher provinziell. Grossmachtpolitik und die meisten regionalen Konflikte versteht man am besten, wenn man die Ideale der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ samt parlamentarischer Demokratie ebenso ablegt wie ein altes Kirchengesangbuch.
Stadium zunehmender Schwächung
Auch in Europa sind die Haltbarkeitsdaten demokratischer Prinzipien in vielen Regionen schon längst abgelaufen. Geschichte wiederholt sich. Wir wissen aus dem letzten Jahrhundert, dass Demokratie nur dort stabil ist, wo die Menschen ein wirtschaftliches Auskommen haben, so dass Klientelismus, Korruption und Schattenwirtschaft sich schlicht und einfach nicht mehr rechnen. Jetzt müssen wir feststellen, dass sie immer noch funktionieren. Das ist aber nicht einmal der entscheidende Punkt.
Der entscheidende Punkt besteht darin, dass Europa sich fassungslos im Stadium zunehmender Schwächung in einem zunehmend feindlicheren Umfeld wiederfindet. Europa ist krank und daher um so angreifbarer. Es hat keine Ahnung, wie es sich wappnen kann.
Kraftlose Vernunft
Vom Militär kann Europa kein Heil erwarten. Es ist schwach und fehleranfällig und vor allem: Wie sollte es neuen Herausforderungen begegnen? Gegen Putins „grüne Männchen“ mögen schnelle Eingreiftruppen der Nato helfen, aber was geschieht, wenn der Krieg im Nahen und Mittleren Osten seinen Weg nach Europa nimmt? Politiker und Militärs werden dann sagen: „Damit haben wir nicht gerechnet.“ Wie soll man auch mit Entwicklungen „rechnen“, denen mit herkömmlichen militärischen Mitteln nicht beizukommen ist?
Das ist ja das momentan Unausdenkbare: Dass der Hass, die Gewalt und die überwältigende Wucht entwurzelter Völkerscharen nicht höflich an Europas Südgrenzen Halt machen. Schon jetzt gibt es den Terror in Europa, aber der ist nur ein Vorbote.
Vor unseren Augen entfaltet sich eine Gewalt, die wir für längst überwunden gehalten haben. Diese Gewalt ist schon in die rechtsradikalen Parolen in Europa eingesickert. Politische Appelle zur „Vernunft“ wirken dagegen kraftlos. Und sie sind es auch. Wie will sich Europa verteidigen, wenn die Waffen, die die europäischen Rüstungsbetriebe über Jahrzehnte mit schönen Gewinnen „ins Ausland“ geliefert haben, samt ihren hasserfüllten Bedienern in ihre Herkunftsländer, also auch nach Europa, zurückkehren?
Ratten im Labyrinth
Wir haben uns angewöhnt, den Krieg als eine eher historische Grösse zu sehen. Wir haben geglaubt, wir hätten ihn mit den beiden „Weltkriegen“ schon hinter uns, während andere Kulturen daran noch laborieren müssen. Die Waffen aber sind wie der Besen des „Zauberlehrlings“, zu dem man nicht sagen kann: „In die Ecke, Besen, Besen! Seid‘s gewesen.“
Auf diese Fragen haben wir keine Antworten. Wir haben diese Fragen noch nicht einmal gestellt, denn sie markieren ein ethisch-politisches Dilemma, dessen Konsequenzen unabsehbar sind. Gewisse populistische Bewegungen samt ihren Führerinnen und Führern tun so, als wüssten sie den Ausweg. Aber sie kennen ihn ebenso wenig wie die Ratten in einem Versuchslabyrinth, die einmal der Soziologe Niklas Luhmann beschrieben hat: Keine Ratte kennt den Ausweg, aber jede Ratte folgt der anderen in der Hoffnung, dass diese den Ausweg findet.
Die Frage, vor denen denkende Europäer jetzt klipp und klar stehen, lautet: Haben wir mehr zur Verfügung als unmittelbare Überlebensreflexe?