Anlässlich des kürzlichen Nato-Gipfels wurde der tiefe sicherheitspolitische Graben zwischen Westeuropa – Osteuropa klammert sich aus Furcht vor Putin weiterhin ans atlantische Bündnis – und den USA durch schöne Worte überkleistert. Der Graben besteht aber. Schon Obama verlagerte das zukünftige Schwergewicht amerikanischer Sicherheitspolitik vom atlantischen in den pazifischen Raum. Sein Verteidigungsminister Gates trat, wenn nicht als erster so doch als bislang strengster Kritiker ungenügender Verteidigungsleistungen Europas auf.
Trumps entscheidender Schritt
Unter Trump sind die USA einen entscheidenden Schritt weitergegangen. Kein Wort mehr von der „Verteidigung der freien Welt“ durch die „unverzichtbare Macht“ USA. Verteidigung ist eine nationale Angelegenheit, auf amerikanisches Wohlwollen können primär jene hoffen, welche amerikanisches Rüstungsmaterial für Milliarden erwerben – unbesehen von der demokratischen Ausprägung des Käufers. So im Moment etwa Saudi-Arabien.
Bestätigung durch Brexit
Nach seinem Wahlerfolg will nun Boris Johnson Grossbritannien möglichst schnell aus der EU führen. Dies wird äusserts schwierig werden. Wirtschafts- und sozialpolitische Probleme werden im Mittelpunkt stehen, wobei „Brüssel“ Johnson keinerlei Extrawürste zubilligen wird. Gleichsam in Klammern sei hier beigefügt, dass dies zu einer Verhärtung im Verhältnis zwischen EU-Mitgliedern und jenen vor der Türe führen dürfte – und nicht zu einer Entspannung, wie das mitunter in der Schweiz angenommen wird.
Sicherheitspolitik im Rahmen der EU war schon immer und bleibt weiterhin eine grosse Herausforderung. Das United Kingdom ist in der Vergangenheit immer als zwar nicht einziger aber gewichtigster Bremser aufgetreten. Nach seinem Austritt aus der EU wird die Perspektive sicherheitspolitischer Zusammenarbeit besser. Diese ist auch immer klarer eine absolute Notwendigkeit. Mit dem EU-Austritt der mittleren Nuklearmacht Grossbritannien, einem ständigen Mitglied im Uno-Sicherheitsrat, und dem Rückzug der USA in die atlantische Isolation sind die Tage der im internationalen Vergleich minimen Verteidigungsaufwendungen der westeuropäischen Staaten vorbei.
Johnson an Washingtons Rockschössen
Ausgeschlossen ist es nicht, dass die EU und Grossbritannien parallel zur künftigen Wirtschaftszusammenarbeit auch sicherheitspolitische Vereinbarungen treffen. Wahrscheinlich ist es aber nicht. Johnson ist ein populistischer Kleingeist, welcher dem persönlichen Erfolg alles opfert. Vergleiche mit Churchill sind absurd. Oder höchstens dort zutreffend, wo es um das „spezielle Verhältnis“ zu den USA geht. Johnson wird alles tun, um an den sicherheitspolitischen Rockschössen Washingtons mitzureiten.
Gründe für intensivere Kooperation der Europäer
Die Problematik ist bekannt und vieldiskutiert: Frankreich hat eine aussenpolitische Vision und eine schlagkräftige Armee, aber keine ausreichende wirtschaftliche Basis für eine globale Rolle der EU zur Verteidigung europäischer Werte und Interessen auf Augenhöhe mit den Supermächten. Deutschland ist und bleibt der wichtigste Wirtschaftsmotor Europas, verfügt aber weder über die notwendige Vision noch eine momentan schlagkräftige Militärpotenz. Paris und Berlin müssen sich hier besser absprechen und viel enger zusammenarbeiten mit Blick auf eine europäische Armee. Nicht aus Grossmachtsgehabe, sondern wegen absoluter Notwendigkeit.
Das aktuellste Beispiel liefert Libyen. Dort steht der Putschgeneral Haftar mit militärischer Hilfe aus Moskau und Geld aus dem arabischen Golf kurz vor der Eroberung der Hauptstadt Tripoli, was zusätzliche Flüchtlingsströme auslösen wird. Konfliktflüchtlinge aus dem Maghreb und Schwarzafrika, zum Beispiel Mali, werden nicht an Russlands Türe klopfen, sondern sich alle auf den Weg nach West- und Nordeuropa machen.
Verteidigung als Teil umfassender Sicherheitspolitik
Grössere militärische Schlagkraft Europas ist nicht notwendig zur Absicherung nationaler Grenzen. Dafür genügen Polizeikräfte und in einem weiteren Sinne eine ebenso vernünftige wie humanitäre Migrationspolitik von Ganzeuropa. Wohl aber zum chirurgischen Eingriff und der darauffolgenden, zugegebenermassen mühseligen Sicherungsaufgabe. So im Moment in Libyen und in Mali, wo islamischer Extremismus und auf dieser Welle reitende Terroristen drohen, das gesamte Land zur Geisel zu nehmen.
Kleinere Staaten gefordert
Das ist eine Aufgabe, die alle europäischen Länder betrifft, denn dieselben Probleme stellen sich überall in Westeuropa. Auch die Streitkräfte der mittleren und kleineren Staaten sind gefordert. Spanien, Belgien, Schweden, aber auch die Schweiz haben Streitkräfte, welche im Gegensatz zur Geschichte nicht mehr im kontinentalen Rahmen gebraucht werden, aber sehr wohl, um Europa in seiner erweiterten Nachbarschaft zu verteidigen, im Mittleren Osten und in Afrika. Sie müssen erstens rüstungspolitisch eng zusammenspannen und zweitens bereit sein, auch in einem gefährlichen Umfeld einzugreifen. Nicht nur mit Blauhelm-, sondern auch mit Kampftruppen.
Schweiz: Sicherheitsinteressen vor neutraler Folklore
Das bedeutet für die Schweiz unmittelbar, dass alle Rüstungsbeschaffungen, eingeschlossen das neue Kampfflugzeug, aus übergeordneten politischen Gründen im europäischen Rahmen erfolgen müssen. Mittelbar wird die Schweiz eine mobile, aber ausreichend bewaffnete Einheit aufstellen müssen, welche tauglich ist für solche Einsätze wie im Moment in Afrika. Unmöglich? Keineswegs, wie der schweizerische Einsatz im Kosovo zeigt, wo richtigerweise wirkliche Landesinteressen über neutrale Folklore gestellt wurden.