Immer wieder wird westliche Waffenhilfe für die Ukraine von links und rechts bekämpft, weil damit der mörderische Krieg verlängert werde. Die Hilfsverweigerung arbeitet aber dem Angreifer Putin in die Hände. Nur wenn die Ukraine standhalten kann, wird Moskau zu Verhandlungen bereit sein, die nicht auf einen Diktatfrieden hinauslaufen. Diese Moral sollte auch für die schweizerische Neutralitätsauslegung gelten.
Der «Tages-Anzeiger» berichtete unlängst über einen erfolgreichen Start-up-Unternehmer, der neben zivilen Kunden auch die ukrainische Armee mit hochentwickelter Technologie für Drohnen beliefert, die offenbar erfolgreich gegen russische Ziele eingesetzt werden. Der Unternehmer heisst Lorenz Meier, hat an der ETH Zürich studiert und stammt aus Süddeutschland. Schon während des Studiums hat er zusammen mit andern ETH-Studenten Software für die Steuerung von Drohnen entwickelt. Sein Technologie-Unternehmen heisst Auterion und hat seinen Hauptsitz in Zürich, wo 50 Mitarbeiter beschäftigt werden. Hier wird nach Aussagen Meiers im «Tages-Anzeiger» nur Drohnen-Technologie für zivile Projekte entwickelt. Die Produktion für militärische Einsätze konzentriert sich auf Niederlassungen im Ausland, hauptsächlich in Amerika. Insgesamt sind 140 Angestellte für Auterion tätig.
Stolz und Skepsis zum Drohnen-Export
Der Drohnen-Spezialist Lorenz Meier ist überzeugt und stolz auf seine Lieferungen an die ukrainische Armee. Auf der Plattform «Linkedin» hat er im Sommer ein Foto veröffentlicht, das ihn auf dem Kiewer Maidan-Platz zeigt. Im Text dazu heisst es: «Es gibt keinen besseren Ort, den 4. Juli (den amerikanischen Unabhängigkeitstag) zu feiern, als den Maidan-Platz in Kiew. Ich bin dankbar für die Freunde, die ich hier bei manchen Reisen gemacht habe. Das Leben von ukrainischen Truppen mit unserer Technologie zu retten, ist sehr erfüllend.»
Einer von Meiers ETH-Lehrern, der 65-Professor Roland Siegwart, hat dazu eine kritischere Meinung. Der «Tagesanzeiger» zitiert ihn wie folgt: «Ich persönlich fühle mich nicht wohl, an einer Technologie zu arbeiten, die den Tod von Menschen zur Folge hat. Auch auf russischer Seite sitzen in Fahrzeugen und Panzern junge Männer.»
Wer dem Kriegstreiber Putin in die Hände arbeitet
Spontan scheint diese Argumentation einleuchtend. Aber wenn man eingehender darüber nachdenkt, vermag sie doch nicht zu überzeugen, weil sie den fundamentalen Unterschied zwischen einem Angriffs- und einem Verteidigungskrieg ausblendet. Natürlich will kein Waffen- und Technologie-Lieferant unbedingt junge Soldaten umbringen. Doch was ist die konkrete Folge, wenn die angegriffene Ukraine den vorwärtsstürmenden Aggressor nicht mit effizienten Waffen abwehren kann? Dann arbeitet man letztlich dem Kriegstreiber Putin in die Hände: Seine Streitkräfte können umso leichter ukrainische Soldaten töten. Die Verteidiger müssen sich zurückziehen und Putin kommt seinem ursprünglichen Ziel, die ganze Ukraine zu erobern, umso näher.
Diese tragische Konsequenz übersehen oder verdrängen all jene pazifistisch oder neutralfundamentalistisch argumentierenden Kräfte und Volkstribune, die mit moralischem Pathos behaupten, es diene der Sache des Friedens und des Humanismus, wenn die Waffenlieferungen an die Ukraine endlich aufhörten. In Wirklichkeit wird damit einem russischen Diktatfrieden das Wort geredet. Das Spektrum dieser unehrlichen Friedensherolde reicht auf der politischen Skala von ganz links bis ganz rechts, vom Vulgärmarxisten Melenchon, über den Pro-Putin-Schwadroneur Köppel und dem heimattümelnden SVP-Übervater Blocher bis zur Linksrechts-Populistin Sahra Wagenknecht und der rechtsnationalistischen AfD.
Neutralität: moralisch fragwürdig
Bezogen auf den Fall Schweiz lässt sich ein striktes Verbot jeglicher Waffenlieferungen an die Ukraine zumindest moralisch nicht überzeugend rechtfertigen, weil damit, wie erläutert, in praktischer Konsequenz der Angreifer Putin und dessen Ziel eines Diktatfriedens begünstigt werden.
Wer einem meuchlings überfallenen europäischen Land den dringend benötigten Nachschub oder die Weitergabe von Waffen verweigert und sich dabei auf seine Neutralität beruft, sollte sich dabei auf seine Moral jedenfalls nicht allzu viel einbilden. Wie würden wir Schweizer das empfinden, wenn unser Land von einem gewissenlosen Imperialisten attackiert würde und die Nachbarn sich als neutral erklärten und uns deshalb die Lieferung von Verteidigungswaffen verweigerten?
Aber auch völkerrechtlich steht das helvetische Waffenembargo gegen die Ukraine auf sehr schwachen Füssen. Denn politisch hat die Haager Landkriegsordnung, auf das sich die helvetischen Neutralitätsfetischisten immer berufen, ein ungleich geringeres Gewicht als die Uno-Charta, die sämtliche Uno-Mitglieder, inklusive die Schweiz, unterzeichnet haben. Gemäss dieser Charta hat jeder Staat das Recht auf Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs . Dieses Recht kann auch durch kollektive Massnahmen, also durch die Hilfe anderer Staaten, gestützt werden.
In diesem völkerrechtlichen Kontext ist auch die Forderung Kiews an die westlichen Verbündeten legitim, deren weitreichende Lenkwaffen gegen spezifische Ziele tiefer im russischen Hinterland einzusetzen. Die westlichen Lieferanten haben zwar die frühere Auflage, dass ihre weitreichende Präzisionsartillerie und Marschflugkörper prinzipiell nicht für Ziele auf russischem Territorium eingesetzt werden dürfen, inzwischen etwas gelockert, doch Präsident Selenskyj verlangt eine weitergehende Aufhebung solcher Begrenzungen.
Kiew braucht längere Spiesse für seine Gegenschläge
Es geht ihm dabei um mögliche Angriffe auf die Startplätze von russischen Armeeflugzeugen, die seit Monaten sogenannte Gleitbomben auf ukrainische Städte losfeuern und dort verheerende Schäden verursachen. Grundsätzlich ist die Aufhebung von Einsatz-Einschränkungen für westliche Waffen im Interesse der Ukraine nur zu begrüssen. Schliesslich setzt auch Moskau ausländische Waffen aus Nordkorea und dem Iran und eventuell anderen Ländern ein, ohne dass man in Russland je von einer Diskussion über entsprechende Einsatzbegrenzungen gehört hätte.
Das führt uns zurück zum in Zürich verwurzelten Drohnen-Spezialisten Lorenz Meier und dessen moralischer Überzeugung, dass er mit seinem hochkarätigen Technologie-Export in die Ukraine diesem Land einen wertvollen Dienst leistet. Offenbar spielt dieser Export auch eine gewisse Rolle bei den zum Teil verblüffenden Erfolgen, die ukrainische Drohnen und andere Lenkwaffen seit einiger Zeit gegen Schiffe im Schwarzen Meer sowie Treibstofflager, Munitionsdepots, elektrische Infrastrukturen und andere militärisch relevante Ziele in Russland erzielt haben. Kiew hat solche materiellen und psychologischen Erfolge als Gegengewicht zu den gnadenlosen täglichen russischen Raketenangriffen gegen ukrainische Wohn- und Versorgungsanlagen dringend nötig.
Der Start-up-Unternehmer Lorenz Meier hat also gute Gründe zur Genugtuung. Wenn Putin je zu Waffenstillstands-Verhandlungen bereit sein sollte, die diesen Namen verdienen, dann nur, wenn er sich zur Erkenntnis durchringen muss, dass die Ukraine militärisch und politisch widerstandsfähig genug bleibt, um sich einem Diktatfrieden nach Moskaus Bedingungen zu entziehen. Vielleicht wird sich gelegentlich auch der frühere ETH-Professor von Lorenz Meier dieser bitteren Logik nicht verschliessen.