Sie verharmlost die Gräueltaten der argentinischen Militärdiktatur; sie ist eine «gute Katholikin» und verehrt die erzkonservative Priesterbruderschaft Pius X.; sie gehört dem ultrarechten, libertären Bündnis «La Libertad Avanza» an und hat Beziehungen zur rechtsextremen spanischen Vox-Partei. Und: Sie ist Vizepräsidentin Argentiniens und macht Präsident Javier Milei das Leben schwer.
Die 49-jährige Victoria Villarruel stammt aus einer alten Offiziersfamilie. Ihr Vater kämpfte für die Ehre Argentiniens im Falklandkrieg, ihr Grossvater, ein Konteradmiral, pflegte freundschaftliche Beziehungen mit Francisco Francos Faschisten. An der Universität in Buenos Aires studierte sie Rechtswissenschaften. Vor drei Jahren stieg sie in die Politik ein und wurde schnell Abgeordnete im argentinischen Parlament. Javier Milei machte sie zu seiner Vizepräsidentschaftskandidatin, was er heute vielleicht bereut.
Schon früh hat sich die Juristin dem Kampf gegen den Terrorismus verschrieben. Doch bei ihr gibt es vor allem einen «linken Terrorismus». Der Terror der Militärdiktatoren, die von 1976 bis 1983 wüteten, bagatellisiert sie und betreibt einen eklatanten Geschichtsrevisionismus. Für sie sind die mordenden Junta-Mitglieder nicht die Täter, sondern die Opfer der linken Guerilla-Organisationen und anderer bewaffneter Oppositioneller. Die Zahl der Toten, die auf das Konto der Militärs gehen, sei weit übertrieben, behauptet sie.
20’000 bis 50’000 Tote
Während der Diktatur waren die Junta-Mitglieder mit äusserster Brutalität gegen ihre Gegner vorgegangen. Geheime Gefängnisse, die Konzentrationslager glichen, wurden eingerichtet. Todesschwadrone, die von der Junta gefördert wurden, trieben ihr Unwesen. Belegt sind zehntausendfache Menschenrechtsverletzungen. Gegner der Junta «verschwanden» (Desaparecidos), wurden gefoltert oder getötet. Dokumentiert ist, dass die Militärdiktatoren linke «Terroristen» betäubten und aus Flugzeugen ins Meer oder den Rio de la Plata warfen.
Die Zahl der Opfer der Diktatur wird, je nach Quelle, mit 20’000 bis 50’000 angegeben. Die Niederlage im Falklandkrieg führte dann zum Sturz der Junta. In zahlreichen Gerichtsverfahren wurden Dutzende Militärangehörige zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Henry Kissinger wurde noch lange vorgeworfen, er sei dem Terror «nicht ablehnend» gegenübergestanden.
Bagatellisierte Verbrechen
Victoria Villarruel hält Vorträge über Menschenrechte und schreibt Bücher. 2006 wurde sie zur Präsidentin des Zentrums für Terrorismusstudien gewählt. Es gehe ihr um «Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung», so die Politikerin. Doch im Zentrum ihrer Auftritte und Schriften steht der «linke Terror». Immer wieder bagatellisiert sie das Morden der Militärs während der Junta-Zeit. Die Militärs hätten sich in einem Krieg gegen Terroristen befunden, was indirekt die Taten der Diktatoren rechtfertige, sagt sie.
Doch auch Milei selbst und andere seiner Getreuen relativieren und leugnen zum Teil die Verbrechen der Militärdiktatoren. Sie sprechen von «Diffamierung», von «ungerechtfertigter Demütigung» der Armee. Auch Patricia Bullich, die Ministerin für Sicherheit, stösst in dieses Horn. Opferverbände werden verurteilt, die Offenlegung militärischer Archive wird als «Schikane» kritisiert.
2014 veröffentlichte Villarruel ein Buch mit dem Titel «Los otros muertos». Auch darin werden die Taten der Junta verharmlost und der linke Terrorismus in den Mittelpunkt gestellt.
Immer wieder wandte sich die Juristin gegen Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der Militärdiktatur. Sie kritisiert die Menschenrechtsorganisationen «Mütter und Grossmütter der Plaza de Mayo» (Madres y Abuelas de Plaze de Mayo), die sich jeden Donnerstag in Protestzügen für die Verschwundenen der Diktatur einsetzen und eine strafrechtliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen verlangen. Die Gedenkstätte für die Opfer der Militärdiktatur auf dem Gelände eines ehemaligen Folterzentrums in Buenos Aires möchte Villarruel am liebsten abschaffen, da dort nur der Opfer der Militärjunta und nicht der Toten des linken Terrorismus gedacht werde.
«Eine gute Katholikin»
Zu Fernando Verplaetsen, dem Chef des Militärgeheimdienstes und Polizeichef von Buenos Aires, unterhielt Villarruel ein freundschaftliches Verhältnis. Verplaetsen wurde 2005 zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Er starb 2015.
Trotz allem. Die katholische Nachrichtenagentur ACI Prensa beschreibt Victoria Villarruel mit viel Freude. Sie sei nicht nur «eine gute Katholikin», sie bekenne sich «öffentlich zu ihrem Glauben». Sie kritisiere Massnahmen, «die ihren Prinzipien zuwiderlaufen, wie z. B. die Abtreibung ungeborener Kinder». Sie sei «eine Anhängerin der traditionellen lateinischen Messe, die auch als ‹tridentinische› und ‹gregorianische› Messe bekannt ist». ACI Prensa erinnert daran, dass Villarruel am 8. Juli 2018 an einer heiligen «Messe für das Leben» in der Basilika Unserer Lieben Frau von Luján teilgenommen hatte. Natürlich ist sie auch gegen die Homo-Ehe.
«Klima extremer Spannung»
Und jetzt also, nur acht Monate nach Dienstantritt von Präsident Javier Milei, tanzt seine Vizepräsidentin immer wieder aus den Reihen. Manchmal scheint es, als sei die ultrarechte Villarruel noch ultrarechter als der ultrarechte Milei. Die Zeitung «La Nación» spricht von einem «Klima extremer Spannung an der Spitze des Staates».
Milei hatte während des Wahlkampfs im vergangenen Oktober versprochen, dass Villarruel in seiner Regierung für die Bereiche Sicherheit und Verteidigung zuständig sein würde. Doch nach dem Wahlsieg änderte er seine Meinung, und Villarruel war tief beleidigt. Für Sicherheit und Verteidigung sind nun seine ehemaligen Gegenspieler Patricia Bullrich und Luis Petri verantwortlich.
Streit um einen obersten Richter
Immer wieder stellt Victoria Villarruel ihren Chef öffentlich an den Pranger. So kritisierte sie den Präsidenten, weil er Ariel Lijo zum Richter am Obersten argentinischen Gericht ernannt hatte. Ariel Lijo habe «nicht das Format, um Richter am Obersten Gericht der Nation zu sein», sagte sie einen Tag vor dessen Vereidigung. Lijo ermittelt gegen Mitglieder der Militärdiktatur wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wegen unerlaubter Bereicherung und Korruption geht er auch gegen Mitglieder der früheren Regierungen von Carlos Menem und jener von Mauricio Macri vor. Nach der Vereidigung von Ariel Lijo sagte Villarruel: «Ich glaube nicht, dass das die beste Wahl war.»
Auch die abrupte Gehaltserhöhung für Senatoren und Senatorinnen vertiefte den Graben zwischen den beiden. Milei und Villarruel gehen sich immer mehr aus dem Weg und betreiben ihre eigene Politik. Zu vielen offiziellen Anlässen wird sie nicht mehr eingeladen. Oder lässt sich entschuldigen. Sogar wenn neue Gesetze zur Diskussion stehen, wird sie nicht immer konsultiert.
Verschwörung in Bariloche?
Im Januar enthüllten argentinische Medien, dass Villarruel in der patagonischen Stadt Bariloche heimlich den früheren argentinischen Präsidenten Mauricio Macri getroffen hat. Der konservative Macri, der 2019 seine Wiederwahl gegen Alberto Fernández und Cristina Kirchner verpasste, hat sich inzwischen als Gegner von Milei entpuppt. Auch Macri wird, wie Villarruel, der revisionistischen Relativierung der Verbrechen des Militärs beschuldigt. Dem Militär sei im Kampf gegen die linken Terroristen nichts anderes übrig geblieben, als mit Härte durchzugreifen.
Laut Zeitungsberichten war es bei den geheimen Treffen zwischen Macri und Villarruel darum gegangen, sich gegen Milei «zu verschwören». In einem Artikel in der Financial Times sagte Villarruel, sie sei bereit, jederzeit den Platz von Milei einzunehmen. Der Artikel wurde dann gelöscht, doch das Unheil war angerichtet.
In einem Fernsehinterview sagte sie, Milei stünde zwischen ihr, Villarruel, und seiner stark dominierenden Schwester Karina Milei, eingeklemmt wie «ein armer, kleiner Schinken». Der Ausdruck machte in den sozialen Medien die Runde.
Der Konflikt zwischen Präsident und Vizepräsidentin findet zu einer Zeit statt, in der Mileis Reformvorhaben ins Stocken geraten sind. «Für die Wirtschaft gibt es trübe Aussichten», schreibt die Heinrich-Böll-Stiftung. Mileis Reformprogramm, das wegen der Kürzung der Sozialleistungen und Sozialprogramme vor allem auf Kosten der Ärmsten geht, hat sogar den Internationalen Währungsfonds veranlasst, Kritik an Mileis Haudegenpolitik zu üben. Die Armutsrate in Argentinien ist unter Milei von 42 Prozent auf über 56 Prozent gestiegen.
Vor dem Hintergrund dieser schweren Wirtschaftskrise könnte sich das Land eigentlich kein Hickhack an der Staatsspitze leisten. Dennoch: «Der interne Konflikt zwischen Milei und Villarruel eskaliert», schreibt das Internetportal «Centinal». Die linke Zeitung «Pagina 12» wartet auf den «endgültigen Verrat» von Victoria Villarruel. Und «elDiario.ar» spricht vom «Kalten Krieg» zwischen den beiden.
Ein Kalter Krieg, der bald ein «heisser» werden könnte.