Seit Sonntagabend erzittert Deutschland unter einem Beben. Nicht die Erde hat sich aufgetan – es ist ein politisches Beben. Bei den Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern Thüringen und Sachsen hat die rechtsextreme «Alternative für Deutschland» jeweils rund ein Drittel der abgegebenen Stimmen erhalten und damit wahre Triumphe erfahren; in Thüringen wurde sie sogar (mit deutlichem Vorsprung vor der CDU) stärkste Kraft.
Damit ist, freilich nicht unerwartet, eingetreten, was nach dem Erleben der Nazi-Diktatur, den Schrecken des Krieges, dem Wissen um die schier unvorstellbaren Verbrechen in den Konzentrationslagern und der totalen Niederlage 1945 über lange Jahrzehnte undenkbar erschien –, dass nämlich auf deutschem Boden jemals wieder Kräfte würden Wurzeln schlagen können, die als «gesichert rechtsextrem» eingestuft werden und deren führende Köpfe (laut Gerichtsbeschluss) als «faschistisch» bezeichnet werden dürfen. Um dieses Ereignis noch einmal in einen notwendigen historischen Zusammenhang zu stellen: Die haushohen Siege der politischen Rechtsaussen erfolgten auf den Tag genau 85 Jahre nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen (was den 2. Weltkrieg auslöste), exakt 75 Jahre nach der Gründung der Christlich Demokratischen Partei Deutschlands (CDU), deren lange Regierungsjahre mit den Kanzlern Adenauer, Erhard, Kiesinger, Kohl und Merkel dem Land und seinen Bürgern gut bekommen sind, und sehr zeitnah zum 34. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung …
Keiner will mit ihr koalieren
Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass – obwohl an sich «nur» Regional-Wahlen – die für die Zusammensetzung der Landtage von Erfurt und Dresden massgeblichen Ergebnisse das (lange Zeit als zementiert geglaubte) Parteiensystem im Land zwischen den Meeren im Norden und dem Bodensee kräftig und, vor allem, nachhaltig durcheinander wirbeln wird. In Thüringen, das sich einst als «Das grüne Herz Deutschlands» pries, ist die AfD zwar mit grossem Abstand vor sämtlichen Verfolgern als Wahlgewinner hervorgegangen, aber niemand will mit ihr koalieren. Da FDP und Grüne jedoch an der für einen Parlaments-Einzug notwendigen 5-Prozent-Hürde scheiterten und die SPD (einstmals sogar im thüringischen Eisenach gegründet) es mit kümmerlichen 6,1 Prozent gerade noch über die Ziellinie schaffte, braucht der CDU-Landesvorsitzende Mario Voigt unbedingt noch weitere Bündnispartner, um eine demokratisch gestimmte Regierung bilden zu können.
Und eine solche wird Voigt kaum aus dem Zauberhut fischen können. Denn da wären einmal die (jetzt abgewählten) in Thüringen bislang regierenden (nach dem Zusammenbruch der DDR hervorgegangen aus der einstigen Staatspartei SED) Linken mit dem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und zum anderen das geradezu raketenhaft in zweistellige Höhen geschossene «Bündnis Sahra Wagenkrecht» (BSW). Gegenüber der Linken besteht jedoch bei der CDU ein Unvereinbarkeitsbeschluss – mit anderen Worten: Zusammenarbeit oder gar schwarz-rote Koalitionen streng verboten. Doch bekanntlich frisst der Teufel in der Not ja Fliegen. Und beim BSW weiss nicht nur bei der Union noch kaum jemand, was man zu erwarten hat. Bündnis Sahra Wagenknrecht, eine neue, erst vor ein paar Monate gegründete Partei? Tatsächlich handelt es sich eigentlich erst noch um eine Bewegung, für die der Name Wagenknecht für alles steht. Für Bezeichnung, Programm, Mitgliedschaft, Koalitionsgespräche – einfach für alles. Fast sämtliche Wahlplakate sowohl in Thüringen wie in Sachsen trugen, im Übrigen, das Konterfei der im Saarland mit dem einst zu den Linken abgewanderten Ex-SPD-Politiker Oskar Lafontaine zusammenlebenden Wagenknecht.
Fast nur bundespolitische Themen
Die Berechnung der berühmten Quadratur des Kreises erscheint beinahe wie eine simple Grundrechenart im Vergleich zu der Aufgabe von Mario Voigt, bei dieser Bündnisauswahl ein stabiles Regierungs-Team in Thüringen zustande zu bringen. Zumal die mit Abstand beherrschenden Themen im Wahlkampf solche waren, die von der Landespolitik gar nicht gelöst werden können, weil für sie sie der Bund zuständig ist. Zuvorderst für die Migrations- und Asylpolitik und die drängendsten gesellschaftspolitischen Probleme mit dem Verhältnis zum Islamismus an der Spitze. Was auch direkt nach Sachsen überleitet, wo der bisherige Regierungschef Michael Kretschmer mit seiner CDU immerhin mit knapper Mehrheit vor der AfD die Führung im Lande verteidigen konnte. Und, vor allem und wenn auch nur hauchdünn, hat verhindern können, dass die Rechtspopulisten (so wie in Thüringen) die so genannte Sperrminorität erringen. Das bedeutet, anders als in Erfurt hat die AfD in Dresden nicht die Möglichkeit, parlamentarische Entscheidungen zu blockieren, für die eine Zweidrittel-Mehrheit notwendig ist. Darunter alle beispielsweise auch wichtige personelle Stellenbesetzungen bei hohen Gerichten und auch Sicherheitsbehörden.
Noch einmal – was in Thüringen und Sachsen am Sonntag geschah, waren Landtagswahlen. Die Wähler votierten über die Besetzung der Parlamente in Erfurt und Dresden für die kommenden vier Jahre. Aber natürlich strahlen die von dort ausgehenden Schockwellen auf die gesamte Bundesrepublik aus. Es ist zwar wahr (und hat sich soeben wieder bestätigt), dass die Menschen im Gebiet der ehemaligen DDR empfänglicher sind für einfache, populistische Parolen als ihre Landsleute im Westen. Dennoch ist der auch aktuell zu beobachtende Rechtsruck kein ausschliesslich ostdeutsches Phänomen. Eine ähnliche Tendenz, wenn auch nicht so deutlich, war im Mai in den West-Ländern Bayern und Hessen zu erkennen. Sie ist auch nicht nur ein gesamtdeutscher Trend, sondern reiht sich ein in ein fast gesamteuropäisches Gesamtbild, wenn man die Vorgänge etwa in Frankreich, Italien, Ungarn, Schweden, den Niederlanden usw. als Vergleiche heranzieht.
Der Kampf gilt dem «System»
Trotzdem sind die dröhnenden AfD-Erfolge für viele Bundesbürger nur schwer zu ertragen. Galt in Deutschland, nicht zuletzt unter der Last der unvorstellbar schrecklichen Nazi-Verbrechen, immer fast wie ein Schwur «Nie wieder». Wer sich die Mühe macht, nicht nur die, zumeist emotional gebremsten, Auftritte der AfD-Repräsentanten bei Übertragungen aus dem Bundestag zu verfolgen, sondern auch einmal die (handwerklich hervorragend gemachten) Videos auf Youtube, dem wird schnell klar, dass das eigentliche Ziel der Höckes, Chrupallas und anderer das demokratische System insgesamt ist. Daraus machen sie ja auch gar kein Hehl. Bei aller Zurückhaltung mit Vergleichen zu 1933 – genau dasselbe Ziel benannten damals auch jene, die ihr «Tausendjähriges Reich» nach 12 Jahren Schutt und Asche preisgaben.
Ja, auch ohne seherische Fähigkeiten: Die Ergebnisse der Wahlen in Thüringen und Sachsen werden Deutschland politisch, auch gesellschaftspolitisch, verändern. Eine der interessantesten Aussagen der demoskopischen Wahl-Analysen war, dass die meisten AfD-Wähler der Partei ihre Stimme keineswegs bloss aus Protest gegen «die da oben», sondern aus Überzeugung gegeben haben. Also weil sie ebenfalls den Überfall Russlands auf die Ukraine anders als die Mehrheit im Lande beurteilen, weil sie sich in ihrer Sorge vor weiterer unkontrollierter Zuwanderung von der Partei bestätigt sehen, weil sie die gegenwärtigen sozialen Leistungen an Migranten und Asylbewerber als ungerecht empfinden. Alles Themen, übrigens, die auch viele in den demokratischen Parteien umtreiben. Was deshalb auch erklärt, warum erhebliche Mengen einstiger Anhänger von CDU, SPD, FDP, den Grünen, ja selbst den Linken auf den Wahlzetteln das Kreuzchen bei der AfD oder bei den Jüngern der Wagenknecht-Bewegung BSW markiert haben.
AfD – für viele eine «normale» Partei
Wenn die AfD damit schon bei grossen Teilen der Gesellschaft als «normale» Partei gewertet wird – was macht das mit dem politischen Gefüge zwischen Flensburg und Konstanz? Dass Erfurt und Dresden auf Berlin – und dort zuvorderst auf die Ampel-Partner SPD, Grüne und FDP – ausstrahlen würden, war von vornherein klar. Und die Landeszahlen stimmen ziemlich genau mit den Ermittlungen der Demoskopen für den Bund überein. Stand jetzt, würden bei der Bundestagswahl die Parteien des sich ursprünglich selbst als «Fortschrittskoalition» gepriesenen Bundesbündnisses an der Spree gleichfalls ein Fiasko erleben. Und dann vielleicht ein Bundestag mit einer auf geringe Einstelligkeitswerte geschrumpften, ehemals mächtigen SPD? Ein Parlament am Ende nur noch mit einer grünen Rumpfpartei. Und, nicht auszuschliessen, ganz ohne FDP? Ohne die liberale Kraft eines Walter Scheel oder Hans-Dietrich Genscher, die als kleiner Partner immer ein wichtiges Korrektiv sowohl an der Seite von CDU/CSU als auch von der SPD war? Dafür aber mit einer beängstigend starken AfD, die den in den vielen Jahren zuvor gewachsenen freiheitlichen, an der Verfassung gewachsenen Geist wieder zu verdrängen droht? Und einer schillernden Wagenknecht-Bewegung, von der niemand weiss, ob und wie lang ihre Zugkraft wirken wird?
Wer das Ansehen der aktuellen Bundesregierung in der Öffentlichkeit als Aufforderung zu weiterem Wursteln in dieser Form wertet, lebt in einer Phantasiewelt. Der Verlust an notwendigem Vertrauen in die politischen Eliten besonders ganz oben ist dramatisch. Und so überfällig es ohnehin schon ist, dass sich die Akteure an der Spree endlich am Riemen reissen und sich ihres Amtseides erinnern, so wenig deutet irgendetwas auf Besserung hin. Deshalb mögen, zum Beispiel Leitungs-Funktionäre wie der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil und sein Generalsekretär Kevin Kühnert noch so oft versichern, es werde keine Personaldiskussion über Olaf Scholz geben; spätestens nach einer – vielleicht erneut desaströs endenden – Landtagswahl am 22. September in Brandenburg gliche es einem Wunder, wenn nicht mit Macht eine Diskussion losbräche, ob nicht die Kanzler-Position neu besetzt werden müsse. Mit welchen Konsequenzen?
Ist Berlin vielleicht Weimar?
1956, also erst elf Jahre nach der deutschen Kapitulation und noch in den Kleinkind-Zeiten der westdeutschen Bundesrepublik, schrieb der Schweizer Publizist Fritz René Allemann ein viel gelesenes und diskutiertes Buch mit dem Titel «Bonn ist nicht Weimar». Der Autor drückte darin sein Vertrauen aus, dass der neue Staat ein anderes Deutschland sein werde – ohne die zerstörerischen Kräfte im Innern und offen nach aussen. Wer die deutsche Nachkriegsgeschichte verfolgt hat, dürfte die Erwartung Allemanns als im Wesentlichen erreicht finden. Die Frage ist, ob sich auch die jetzigen Generationen noch daran ausrichten. Erfurt und Dresden lassen grüssen.