An Ratschlägen und Worthülsen mangelt es in der Schweizer Schullandschaft zurzeit nicht: Lernen lernen statt Wissen aneignen, selbstorganisierter Unterricht statt direkte Instruktion, offene Lernstrukturen statt lehrergesteuertes Lernen, individualisierte Planarbeit statt kollektiver Klassenunterricht. Das sind nur einige von vielen flinken Floskeln. Doch die Gegensatzpaare führen nicht weiter. Mit Glaubenssätzen allein wird der Unterricht kaum lernwirksamer.
Vom Ziel her denken, nicht vom Weg
Beim Unterrichten gilt kein Entweder-oder. Es vermag zwar den martialischen Pauker und den fürsorgerischen Sozialhelfer zu unterscheiden. Doch solches Polaritätsdenken verkennt, dass Lehren und Lernen eine Disziplin des Sowohl-als-auch sind. Im Vordergrund steht immer die prinzipielle Frage: Worum geht es genau? Und was ist das konkrete Lernziel? Daraus erst ergibt sich die operative Konsequenz: Welcher Weg führt dorthin? Welche Methode zeitigt zielorientierte Effekte? Nicht umsonst stammt das deutsche Wort Methode vom griechischen méthodos, was Weg bedeutet.
Die Methode per se ist kein Ziel. Sie steht nie im Mittelpunkt, sondern immer im Dienste der Zielintention und hat unterstützenden Charakter. Wir sollten darum wieder lernen, mehr vom Lernziel und weniger vom Weg her zu denken. Entscheide zur Bildungsstrategie müssen denen zur Schulstruktur vorausgehen.
Keine Bildung ohne Inhalte
Entscheidend für lernwirksames Arbeiten ist – neben der Lehrerin, dem Lehrer und der Fachlichkeit des Unterrichts – in erster Linie der inhaltliche Anspruch mit klaren Zielen (1). Wir bilden uns an Inhalten und Aufgaben. Darum ist es bedenklich, wenn der sogenannte „Stoff“ oder das Wissen zum Feind der Lehrpersonen gemacht und der Lerninhalt geringgeschätzt wird; wenn man meint, es komme nicht auf die Grundkenntnisse an, sondern nur auf deren Anwendung. Das ist wie Kochen ohne Zutaten.
Was anderes ist es denn, wenn der Fachschaftspräsident Geschichte eines grossen Schweizer Gymnasiums öffentlich verkündet: „Es [ist] heute matchentscheidend, Informationen richtig einordnen zu können, die Quellen kritisch zu hinterfragen und effizient [im Internet] suchen zu können.“ Das stimmt an sich schon. Doch vom Grundlagenwissen, das diese Kompetenzen erst ermöglicht, sagt er nichts. Sein Statement segelt unter dem Titel „kompetenzorientiert statt wissensbasiert“ und damit im inhaltlichen Vakuum. Das ist eine fatale Trivialisierung und Fehlinterpretation lernwirksamen Unterrichtens.
Renaissance der Grundkenntnisse
Informationen allein ergeben noch kein Wissen. Darum genügt es nicht zu verstehen, wie man bei Google oder Wikipedia Informationen und Wissensfragmente abfragt. Das Netz als immense Sekundärmaschine liefert Daten, Abertausende, Millionen. Doch der Triumph der Informationen darf nicht in den Verlust des Wissens münden. Daten fügen sich nicht von selbst zum Wissen. Sie führen so wenig zum Kompetenzerwerb, wie Zehntausende Tonnen Eisen einen Eiffelturm bauen. Jede Einsicht von Bedeutung will gedanklich erarbeitet sein. Das erspart uns keine Technik. Auch in Zukunft nicht.
Wissen ist mehr als die Summe der verfügbaren Informationen; es muss gewichtet, bewertet und verstanden sein. Wissen referiert auf Erkennen, Verstehen, Begreifen. Automatisiertes Wissen bildet die Basis für Verstehensprozesse. Kritisches Hinterfragen gründet darum auf systematisch aufgebauten Wissensstrukturen. Sie sind das Fundament für anspruchsvolles Denken, Urteilen und Handeln.
Wider den Primat der Methoden
Notwendig wäre ein Primat der Inhalte vor der drängenden Dominanz der Methoden. Nur an konkreten Inhalten lernen wir, wie man klare Kriterien herausarbeitet, Strukturen aufbaut, begriffliche Raster findet, präzise Fragen stellt und die Neugier wie den Zweifel kultiviert. Im Diskurs – denkend, replizierend, argumentierend – erwerben wir auch jene intellektuellen Fähigkeiten, auf die es heute zwingend ankommt: kreative Intelligenz, skeptische Kompetenz, logische Kombination. Das sind unverzichtbare Qualitäten, ohne die man im Datenmeer des Internets ertrinkt.
Doch nicht selten verwechselt man Inhalte, Methoden und Ziele. Selbstständigkeit ist eben keine Resultante permanenter Planarbeit. Vernetztes Denken entsteht nicht dadurch, dass beschriftete Kreise und Rechtecke auf Folien miteinander verbunden werden. Teamfähigkeit ergibt sich nicht dadurch, dass nun auch im Mathematikunterricht Gruppenarbeiten methodisch eingesetzt werden. Kommunikation ist keine Folge häufigen Redens und Lernfähigkeit nicht das Ergebnis metakognitiver Eintragungen in Schultagebücher.
Die relevanten Grössen lassen sich nicht einfach methodisch optimieren; vielmehr sind sie gebunden an das, was früher materiale Bildung genannt wurde, also an kulturelle Überlieferungen und Wissenskontexte, die sich nicht oder jedenfalls nicht beliebig individualisieren lassen. Kompetenz ist ohne Inhalte nicht denkbar.
Über Inhalte zum Lernen
Kein Kind sehnt sich nach „Kompetenzen“, kein Jugendlicher ist neugierig darauf. Sie wollen Phänomene, Inhalte, Interessensgebiete. Die Kleinen sind fasziniert von Feuerwehrautos oder Dinosauriern, die Grösseren interessieren sich für fremde Länder oder für Burgen und Ritter, für Entdeckungen. Das sind zuerst Stoffe, keine Kompetenzen.
Der geistige Horizont weitet sich an Inhalten. Darum, so der Philosoph Hans Blumenberg, ist „Bildung […] kein Arsenal, Bildung ist ein Horizont.“ Blumenbergs Metapher zielt auf Einsicht in die Dinge und die Welt. In diesem Sinne verändern und erweitern Erkenntnisse unsere Perspektive. Nikolaus Kopernikus zu verstehen oder Charles Darwin, Thomas Hürlimann zu lesen oder James Joyce, die Gedichte eines Christian Morgenstern oder einer Wisława Szymborska zu geniessen, das Universum von Rembrandt und Picasso, von Bach und Mozart, von Dostojewski und Brecht zu erkunden, ins Geheimnis der Fledermäuse einzutauchen oder in die Geologie der Alpenfaltung – das alles bereichert die Fantasie und schärft das Empfinden, prägt das Denken und leitet unser Handeln. Bildung ist somit doppeltes Lernen: Man lernt über Inhalte die Welt verstehen, und man lernt das Lernen kennen.
Vielfältig, aber nicht beliebig
Kompetenzen basieren in erster Linie auf Inhalten. Darum muss sich Schule immer über thematisch anspruchsvolle Lernziele definieren. Sie zielen einerseits auf sinnorientiertes Lernen und die Lernfähigkeit, anderseits auf Wissen und Können. Dazu gehört auch Strategiewissen. Unterschiedliche Lernformen führen zu diesen Zielen.
„Guter Unterricht kann auf vielfältige, aber nicht auf beliebige Weise realisiert werden“, schrieb der Gründungsrektor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, Franz E. Weinert. Darum verfügt der gute Lehrer über ein breites Repertoire unterschiedlicher Lernstrategien. Und der Wissenschaftler Weinert fügte bei: „Nicht die äusseren Schulstrukturen sind letztlich entscheidend, sondern die Lehrperson und vor allem jene Lehrerinnen und Lehrer, die ein hohes Mass an themen- und sachbezogener Schüleraktivität mit einem hohen Mass an schülerorientierter Lehrersteuerung verbinden können.“
Dabei bestimmen Themen und Inhalte die Methodenwahl – und nicht umgekehrt. Lernwirksam werden sie dann, wenn sie die Schülerinnen und Schüler kognitiv aktivieren. Kompetenzorientierung baut auf profunder Wissensbasis, sonst ist sie orientierungslos.
(1) Elsbeth Stern, Aljoscha Neubauer (2013), Intelligenz. Grosse Unterschiede und ihre Folgen. München: Deutsche Verlags-Anstalt; Michael Felten, Elsbeth Stern (2014), Lernwirksam unterrichten. Im Schulalltag von der von der Lernforschung profitieren. Berlin: Cornelsen, S. 30
(2) Zitiert nach: Norbert Ricken (2006), Die Ordnung der Bildung. Beiträge zur Genealogie der Bildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 163