Der deutsche Kaiser Wilhelm II. besuchte die Potsdamer Sternwarte. Zum wissenschaftlichen Leiter gewandt, meinte er: „Na, Herr Professor, was gibt’s denn Neues am Sternenhimmel?“ Worauf der Angesprochene ganz bescheiden fragte: „Kennen Majestät denn das Alte schon?“
Exponentiell verlaufende Innovationskurve
Der Zeitgeist verlangt nach Neuem. Unerbittlich. „Na, was gibt’s denn Neues?“ Nicht am Sternenhimmel, sondern in der Schulwelt. Das ist die Frage, die – so macht es den Anschein – die meisten Bildungspolitiker und Forschungsleute antreibt und umtreibt. Neues kreieren, Zusätzliches implantieren, das Ganze modernisieren und digitalisieren, wie wenn das Bisherige und Bestehende radikal versagt hätte. So empfinden es viele erfahrene Lehrerinnen und Lehrer. Die offizielle Bildungspolitik setzt Bildung mit ihrer Reform gleich. An der Basis erfährt man Schule und Unterricht darum als institutionelle Dauerreform.
Natürlich wünschen sich auch eher traditionell orientierte Lehrpersonen kein Zurück zur autoritären Schule von anno dazumal – ganz zu schweigen von der alten Paukerschule, wie sie Thomas Mann in seinem Roman „Buddenbrooks“ oder Friedrich Torberg in „Der Schüler Gerber“ hautnah skizzieren. Sie postulieren auch kein Plädoyer für den Status quo. Sie wollen „endlich wieder unterrichten!“ (1) Ihnen ist bewusst: Der Weg in die pädagogische Zukunft ist immer eine Resultante zweier Kräfte: der Innovation und der Tradition. Es ist der komplementäre Kurs zwischen dem Mut zu Konstanten und der Angst vor dem Fertigen.
Radikaler Wandel als Folge ungebremster Additionen
Doch diese Balance zwischen Tradition und Innovation droht zu kippen. Die Volksschule hat in den letzten Jahren viele neue Aufgaben übernommen, vermutlich zu viele: zwei frühe Fremdsprachen, die totale Integration aller Schüler in die Regelklassen und eine möglichst weitgehende Individualisierung der Lernprozesse. Über die Kompetenzorientierung kommen immer neue Leistungsziele, das Ganze verbunden mit engmaschiger Prüfungs- und Kontrollkaskade sowie dauernder Evaluation und dem Auftrag, alles zu messen – von den erzieherischen Zusatzaufgaben aus dem Elternhaus ganz zu schweigen.
Zu vieles muss heute in zu kurzer Zeit erarbeitet werden – und zwar von den Kindern selber. Eigenverantwortet und selbstgesteuert, wie es die zeittypische Unterrichtsmethode verlangt. Lehrpersonen fungieren dabei als Coachs. Lernschwächere und mittelmässige Schüler sind benachteiligt. Lernen ist keine Schnellstrasse; die Zeit zum Üben fehlt vielfach. Die Diffusionsprobleme steigen. Auch das wissen wir aus der Forschung.
Dichter als sensible Seismografen
Wer sich inhaltlich entgrenzt und alles übernimmt, kann kein Ding richtig tun. Er überfordert und übernimmt sich selbst. Dieses Risiko droht unserer Volksschule. Sie kann kaum bewältigen, was Ihnen die Bildungspolitik mit der dichten Reformabfolge zumutet.
Vermutlich fehlt manchen Bildungsexperten und Unterrichtsforschern die Sandgrube, der konkrete Bezug zum Schulalltag. Sie bewegen sich in erfahrungsverdünnter Luft, weit weg vom pädagogischen Parterre. Doch sie müssen wissenschaftliche Studien vorweisen und so ihre akademische Existenz legitimieren. Vor einigen Jahren schrieb deshalb der Dichter und Lehrer Markus Werner: „Im Klassenzimmer stehe er gern, sagte [Lehrer Loos], unmittelbar ausserhalb aber walte der Ungeist, denn im Verlaufe der vergangenen Jahre sei die Schule fast überall in die Klauen von Funktionären geraten, von pädagogischen Analphabeten. Jetzt aber, auf diesem Fussmarsch durch die stille Nacht, verbiete sich jedes weitere Wort über dieses Trauerspiel Schule.“ (2)
Die Prinzipien einer guten Schule freischaufeln
Etwas düster skizziert, zweifelsohne – dichterische (Mahn-)Worte in den Mund eines älteren Pädagogen gelegt. Sicher taugt Lehrer Loos nicht als Vorbild, denn „Resignatio“, so Gottfried Keller, sei „keine schöne Gegend“. Doch er muss benannt werden, dieser resignative Konformismus, der sich da und dort breitmacht und für die Kinder Gift bedeutet.
Vergessen ging im Reformgedränge der Stellenwert der Lehrerin, des Lehrers – als empathisch lehrende und persönlich animierende Person. (3) Ihre Bedeutung wird unterschätzt, gar verdrängt durch neue Methoden und digitale Medien. Vor über 80 Jahren erinnerte Albert Einstein in einer Rede an die gute Schule. Er verglich deren Grundgesetze mit einer Statue in der Wüste. Diese Prinzipien gingen immer wieder verloren; sie müssten permanent freigeschaufelt werden. Der Treibsand verschütte sie stets aufs Neue. Im Zentrum von Einsteins Gedanken stand die Lehrerin, der Lehrer.
Bildung braucht Persönlichkeit
„Kennen Majestät das Alte schon?“ Es geht in der Bildung nicht um das Alte, es geht um das Bewährte, es geht um das, was nicht veraltet und immer gilt. Es geht um die Statue im Wüstensand. An sie ist zu erinnern.
Das tat der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie mit seiner umfangreichen empirischen Studie. Er förderte eigentlich nichts Neues zutage. Man weiss es schon lange; Albert Einstein sagte es mit seinen Worten. Doch der Flugsand deckt diese Wahrheiten immer wieder zu.
Im Beziehungsaspekt den Kern des Pädagogischen sehen
Für Hattie sind nicht die äusseren Schulstrukturen und die Reformprozesse entscheidend, sondern die engagierte Lehrerin, der vital präsente Lehrer, „passionate and inspired teachers", wie er sagt. Es sind Persönlichkeiten, die mit ihrer Grundhaltung das Lernen der Kinder ins Zentrum stellen und im Beziehungsaspekt den Kern des Pädagogischen sehen. Unterricht als Dialog. Solchen Pädagogen gelingt es, lehrerzentriertes Lehren und schülerzentriertes Lernen zu kombinieren, statt beides gegeneinander auszuspielen wie beim selbstregulierten Lernen oder beim Lernen ohne Lehrer LoL. Hattie untermauert empirisch, was der Hirnforscher Gerhard Roth fordert: „Bildung braucht Persönlichkeit“. (4)
Auf die Haltung der Lehrperson kommt es an
„Was gibt’s denn Neues am Pädagogenhimmel?“ Es ist das Alte, es ist die Erkenntnis: „Wo eine gute Lehrerin, ein guter Lehrer am Werk ist, da ist die Welt ein bisschen besser.“ Formuliert hat sie der Kognitionspsychologe Hans Aebli, Schüler von Jean Piaget und Hochschullehrer in Bern.
Diese Wahrheit muss immer wieder freigeschaufelt werden. Befreit werden müssen auch Lehrerinnen und Lehrer, und zwar von überflüssigem Büroballast und unnötigem Papier. Lernen ist Beziehungshandeln, ist verstehende Zuwendung. Das ist der Kern des Unterrichts. Pädagogische Interaktion ist darum wichtiger und wirksamer als administrative Lenkung durch eng getaktete Lehrprogramme. Nichts Neues eigentlich, nur das Alte.
(1) Postulat/Manifest VPOD, publiziert am 18.03.2018.
(2) Markus Werner, in: Am Hang. Roman. Frankfurt am Main: Fischer TB. 12. Aufl. 2011, S. 46.
(3) Roland Reichenbach (2018), Ethik der Bildung und Erziehung. Essays zur Pädagogischen Ethik. Paderborn: Verlag Ferdinand Schönigh, S. 204f.
(4) Gerhard Roth (2011), Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 35ff.