Schirach bezieht sich in seinem schmalen Band «Jeder Mensch» auf grosse Vorbilder der Geschichte, also die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die französische «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte», die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Immer schon haben Erklärungen dieser Art einen Sollzustand angezielt, so von Schirach, während die realen Rechts- und Lebenssituationen der Menschen von diesem Ideal weit entfernt waren. Aber ohne diese Erklärungen als Richtschnur gäbe es keine Chance auf Besserung
Gleich zwei «Artikel» von insgesamt sechs zielen bei Schirach auf die digitale Umwelt. So soll «die Ausforschung oder Manipulation von Menschen» verboten werden. Und bezüglich der «künstlichen Intelligenz» hält er fest: «Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.» Dies ist der interessanteste Satz der ganzen Erklärung. Denn er markiert eine gesellschaftliche Tendenz, die im Gewand des Fortschritts daherkommt, aber den Menschen mehr und mehr entmündigt.
«Künstliche Intelligenz» ist heute schon allgegenwärtig. Fotosoftware macht dank KI noch aus dem letzten Geknipse «Meisterwerke», wie es in der Werbung heisst, und die gesamte zukünftige Elektromobilität mitsamt der selbstfahrenden Autos soll nicht ohne KI auskommen. Allein diese beiden Beispiele verweisen auf die Pointe: Das Tun des Menschen wird optimiert und immer präziser überwacht, und er kann in Zukunft keine Fehler mehr machen. Die Werbung, aber auch die Politik sorgen dafür, dass das, was längst im Gange ist und sich mehr und mehr ausbreitet, von Konsumenten und nicht zuletzt den Bürgern als Fortschritt angesehen wird.
Es wirkt schon fast altmodisch, darauf hinzuweisen, dass diese «Optimierungsprozesse» mehr und mehr zur Entmündigung führen. Immanuel Kant sprach von «selbstverschuldeter Unmündigkeit», aus der die Aufklärung herausführe. Es ist kein wirklicher Fortschritt, wenn dem Menschen immer mehr abgenommen wird, seine Fehlermöglichkeiten eingehegt werden und er auf Schritt und Tritt Datenspuren hinterlässt, auch wenn diese, wie es immer so schön heisst, «anonymisiert» werden.
Ob sich das aber, wie Ferdinand von Schirach fordert, wieder zurückdrehen lässt, ist zwar zu wünschen, dürfte aber aufgrund der vielen Grenzfälle beziehungsweise Übergänge vom blossen Komfort einer Anwendung zur Manipulation des Nutzers schwer zu fassen sein. Dafür trifft aber die Forderung, dass «wesentliche Entscheidungen» von Menschen zu treffen sind, auf mehr Praktikabilität. Denn dann könnten sich keine Behörde, kein Unternehmen oder eine andere Institutionen darauf hinausreden, dass für ihre Entscheidungen kein bestimmter Mensch oder eine Gruppe verantwortlich sei, weil die KI eben zu diesem Resultat gekommen sei.
Der Soziologe Ulrich Beck sprach von «organisierter Unverantwortlichkeit», um die Tatsache zu markieren, dass Unternehmen alle Entscheidungen so delegieren, dass nie eine Person oder Gruppe für alle Folgen haftbar gemacht werden kann. Die «Künstliche Intelligenz» könnte hier noch eine Steigerung der Unverantwortlichkeit bieten, weil ja keine natürliche Intelligenz der künstlichen gleichkommt. Es ist gut, vor diesen Irrweg ein Stoppschild zu stellen.