In Wohnungsinseraten hiess es: „Keine Hunde, keine Italiener“. Das war 1970. Mit Slogans wie „Schweizer wacht auf!“ warb James Schwarzenbach für seine Initiative. Er, der Mann mit teils völkischen, rassistischen und antisemitischen Ausfällen war nach dem Krieg in Europa der erste rechtspopulistische Anführer. Mit seiner Initiative sollten bis zu 400’000 Ausländer ausgewiesen werden. „Die Schweizer zuerst“ hiess das Motto seines Vorhabens. 54 Prozent der Stimmberechtigen lehnten am 7. Juni 1970 die Initiative ab. Acht Kantone sagten Ja.
Ein Stück Schweizer Geschichte
Vor 50 Jahren boomte die Schweizer Wirtschaft. Arbeitslosigkeit gab es fast keine. Und es waren vor allem die billigen italienischen Arbeitskräfte, die zu diesem Boom beitrugen. Wie kam es dazu, dass fast die Hälfte der Schweizer dieser Rauswurf-Initiative zustimmten?
Dieser Frage geht Concetto Vecchio nach. Der 48-Jährige ist politischer Redaktor bei der linksliberalen italienischen Tageszeitung „La Repubblica“. Sein Buch trägt den Titel „Cacciateli“ (auf Deutsch etwa: „Werft sie raus! Jagt sie weg!“). Untertitel: „Als wir die Migranten waren“.
Vecchio versteht „Cacciateli“ nicht als historische Abhandlung, sondern als sehr persönliches Buch. Es schildert die Geschichte seiner sizilianischen Eltern, die in die Schweiz ausgewandert sind. Wie erlebten sie diese für die Italiener bleiernen Jahre? Concetto Vecchios Buch (eine deutsche Version ist in Vorbereitung) ist eine Familiengeschichte – und ein Stück Schweizer Geschichte.
Unglücklich
Linguaglossa ist ein Städtchen am Nordosthang des Ätna, 50 Kilometer nördlich von Catania. Vecchios Grossvater kommt 1945 schwerkrank aus dem Krieg und einem Konzentrationslager in Tunesien zurück und stirbt als junger Mann. Vecchios Vater wird Möbelschreiner. Der Wirtschaftsboom, der jetzt einsetzt, bringt ihn ans Hungertuch. Denn plötzlich sind es grosse Firmen im Norden, die Möbel billig herstellen. Ein einfacher, kleiner Möbelschreiner kann da nicht konkurrieren.
So emigriert er 1962 mit 21 Jahren in die Schweiz, findet Unterschlupf auf einem Bauernhof und findet Arbeit bei einem namhaften Möbeldesigner in Möriken (AG). Doch er ist unglücklich. Die Italiener werden keineswegs mit offenen Armen aufgenommen. Diese Abneigung spürt er und kapselt sich ab. Genug Geld, um an Weihnachten nach Sizilien zu fahren, hat er nicht. Dafür geht er ins weihnachtlich beleuchtete Zürich, schaut durch die Fenster der belebten Lokale. Soll ich hineingehen? fragt er sich. Er geht nicht.
„Per me va bene“
In Wildegg (AG) lernt er eine Frau kennen, die aus allerärmsten Verhältnissen kommt. Auch sie stammt aus Linguaglossa. Sie ist Schneiderin und verdiente in Sizilien 100 Lire pro Tag. Einmal sah sie in einem Laden einen Mantel, der ihr gefiel und der 16’000 Lire kostete. Sie hätte 160 Tage dafür arbeiten müssen, ohne sonst etwas auszugeben. Da realisierte sie, wie arm sie war. Mit 20 Jahren fährt sie mit ihrem Bruder mit dem Zug nach Seon (AG), wo sie Fabrikarbeiterin wird.
Der Möbelschreiner verliebt sich sofort in sie, doch sie kehrt nach Sizilien zurück. Ein Jahr später fährt er nach Linguaglossa, um sie zu suchen. Doch er findet sie nicht; alleinstehende Frauen gingen damals in Sizilien nicht in den Ausgang. Über komplizierte Umwege und viel Vermittlung knüpft er Kontakt mit ihr. „Ihn heiraten? Per me va bene.“ Sie verloben sich und sehen sich ein Jahr lang nicht. Nicht einmal telefonieren sie. Jeden Tag schreibt er ihr eine Postkarte. Ein einziges Mal hatten sie sich getroffen, bevor sie heiraten und in die Schweiz ziehen.
Ein Leben in einer Parallelwelt
Sie merken schnell, erzählt Concetto Vecchio, dass „die Schweiz ein Land ist, in dem man sehr aufpassen muss“. Sie wussten: „Die Leute mögen dich nicht, ihr Italiener macht Lärm, sie versperren die Trottoirs und lungern am Bahnhof herum, sie pfeifen unseren Frauen nach, sie singen laut, das stört, sie gehen mit den Kindern aus, auch das stört.“ Vecchios Eltern fühlen sich gemieden, ausgeschlossen. Man gibt ihnen zu verstehen, dass man sie eigentlich verachtet. Die Folge ist, dass sie sich nicht integrieren und kein Deutsch lernen. Sie suchen ihr eigenes Leben in der italienischen Gemeinschaft. Dort, in einer Parallelwelt, leben sie nun, eher unglücklich als glücklich. Und immer die Angst, ausgestossen zu werden, die Arbeit zu verlieren, nicht zu wissen, wohin man gehen soll.
Die sich ankündende Schwarzenbach-Initiative macht alles noch schlimmer. Schwarzenbach, ein begnadeter Redner, peitscht das Volk gegen die Italiener auf. Sie müssen sich die wüstesten Beleidigungen anhören. Am Samstag vor der Abstimmung geht der Vater voller Angst in die Fabrik und sagt sich: „In Italien finde ich keine Arbeit, aber wenn Schwarzenbach gewinnt, so muss ich gehen.“ Existenzangst.
„Diese Sau-Tschinggen jubeln wieder“
Sechs Monate nach der Verwerfung der Schwarzenbach-Initiative wird Concetto in Aarau geboren. Sein Leben spielt sich in Lenzburg ab. Er integriert sich, doch auch er erlebt die Anti-Italo-Stimmung. Als er sich 1978 freut, weil die italienische Fussballmannschaft gegen die Niederlande 1:0 führt, hört er einen Erwachsenen sagen: „Diese Sau-Tschinggen jubeln wieder.“
Wo sieht er den Grund für diese Italo-Aversion, die oft in puren Rassismus umschlug? „Die Schweizer sahen die Italiener als Konkurrenz“, sagt Concetto Vecchio im Gespräch mit Journal21. Und vor allem: „Die Italiener waren anders. Dieses Anderssein störte“, sagt er. „Sie kommen aus armen, ländlichen Verhältnissen, benehmen sich nicht, wie sich die Schweizer benehmen, sie gingen nicht zur Schule, sie können nicht lesen und schreiben, sprechen einen seltsamen Dialekt und zeugen nur Kinder.“ All das passe nicht in die schweizerische Norm. Und, so Vecchio, auch wirtschaftliche Ängste kamen dazu. Schwarzenbach behauptete, die Italiener würden den Schweizern die Arbeit wegnehmen. „Sie arbeiten doppelt so viel für den halben Lohn. Sie machen uns arm.“
Fan des FC Aarau
Vecchios Eltern sind 1984 zusammen mit Concetto nach Sizilien zurückgekehrt. Der Sohn ist heute einer der renommierten Journalisten der grossen Römer Tageszeitung „La Repubblica“ und wohnt in Rom, wo wir ihn trafen.
Vecchios „Cacciateli“ klagt nicht nur an. Das ist eine der vielen Stärken dieses sehr authentischen Buchs. Er beschreibt eindrücklich, wie sich die Stimmung geändert hat. Die ersten 14 Jahre seines Lebens verbringt er in der Schweiz. „In der Primarschule war ich noch der Tschingg, doch in der Bezirksschule in Lenzburg wurde ich sehr gut aufgenommen“, erzählt Vecchio in perfektem Schweizerdeutsch. Urs Strub, sein Klassenlehrer in der Bezirksschule in Lenzburg, sei entscheidend für ihn gewesen. „Ohne ihn wäre ich nicht Journalist geworden. Er hat mein journalistisches Talent entdeckt und mich gefördert. Er bezahlte mir während Jahren ein Abonnement für die Fernausgabe des Tages-Anzeigers. Das vergesse ich nie.“ Noch immer ist Concetto ein Fan des FC Aarau.
Die Psyche der Arbeiterschaft erkannt
Die Fussballweltmeisterschaft 1982 habe zum Stimmungsumschwung beigetragen, glaubt der Autor. „Fast alle meine Schweizer Freunde waren für Brasilien, doch Italien wurde Weltmeister.“ Das sei wie ein Dammbruch gewesen. „Plötzlich wurden die Italiener geachtet, verehrt und sogar bejubelt. Plötzlich waren wir wer.“
Wie schätzt Concetto Vecchio James Schwarzenbach ein? Der Parteichef der „Nationalen Aktion“, früher Mitglied der „Nationalen Front“ und später Gründer der „Republikaner“, sei eine sehr komplexe, interessante Figur, ein Aristokrat, der sich gegen die Familie und die Gesellschaft auflehnte. Seine Initiative sei ein Mittel gewesen, um sich zu profilieren. „Endlich wurde er ernst genommen.“ Er habe die Psyche eines Teils des Volks erkannt, vor allem jene der Arbeiterschaft. Es sei ihm gelungen, Ängste zu schüren. „Ich bin kein Rassist“, habe Schwarzenbach immer gesagt. „Doch niemand sagt, er sei Rassist, auch Salvini nicht“, erklärt Vecchio. Populisten gäben immer vor, sie seien berufen, zum Wohle des eigenen Volkes zu handeln.
„Schreibe dieses Buch nicht“
Vecchio lobt, dass Schriftsteller wie Max Frisch oder Filmemacher wie Alexander Seiler oder Roman Brodmann diese Zeit „differenziert aufgearbeitet“ haben. „Die Schweiz ist heute ein anderes Land als in den Siebzigerjahren“, sagt der Autor.
Die Italiener, die damals in der Schweiz waren, würden nicht gerne von jener Zeit sprechen, erzählt Vecchio. Sie wollten jene Jahre vergessen. „Meine Mutter sagte mir: „Schreibe dieses Buch nicht. Und wenn du es schreibst, schreibe nicht schlecht über die Schweiz.“ Denn: „Die Schweiz hat uns trotz allem auch viel gegeben.“
Vecchio schrieb das Buch, und es verkauft sich wie warme Semmeln. In vierzig Tagen wurden vier Auflagen publiziert. Letzte Woche kam die fünfte dazu. „Es ist die Geschichte von der Armut unseres Landes. Viele Italiener finden in dem Buch ihre eigene Vergangenheit wieder.“ In Linguaglossa „bin ich heute fast schon ein Star“, witzelt der Autor. Und Mutter und Vater sind stolz auf ihn. „Eigentlich wollte ich ein politisches Buch schreiben, doch viele sehen es als Roman der Emigration.“
„Cacciateli!, Quando i migranti eravamo noi“, Feltrinelli, 2019