Weder in den akademischen Elfenbeinturm noch zum ökonomischen Jetset will der tschechische Ökonom so recht passen. Jugendlichkeit und überschiessende Entdeckerfreude sind schliesslich keine gängigen Merkmale in solchen Kreisen. Der 1977 geborene Tomáš Sedláček ist als Wissenschaftler so unkonventionell wie als Berater. Auf beiden Feldern hat er Blitzstarts hingelegt und einen gesunden Eigensinn bewiesen.
Vor einigen Wochen stellte er sein 2012 auf Deutsch herausgekommenes Buch «Die Ökonomie von Gut und Böse» im Zürcher Literaturhaus vor. Miriam Meckel als Gastgeberin und Moderatorin rollte ihm den Teppich aus. Sedláčeks Debattierlust ist genauso ungebändigt wie der Duktus des Bestsellers. Ein provozierendes, unfertiges und bei alledem höchst anregendes Buch!
Erzählungen vom guten Leben
Vom Titel sollte man sich nicht beirren lassen. Zwar geht es immer wieder um Gut und Böse, doch nicht nach dem bekannten Muster, wirtschaftliche Mechanismen bei nicht unmittelbar ökonomischen Gegenständen aufzuzeigen (Ökonomie des Schenkens etc.). Tomáš Sedláček setzt anders und breiter an: Er fragt nach der impliziten Moral des Wirtschaftens, forscht nach dessen geistesgeschichtlichen Urgründen, glaubt den Archetypen der Ökonomie auf der Spur zu sein und fordert eine Meta-Ökonomie als Disziplin weit ausgreifender Reflexion und selbstkritischer Standortbestimmung.
Das klingt nach wissenschaftlicher Revolution oder zumindest nach unüberschaubarem, noch kaum kartiertem Terrain. Tomáš Sedláček ist davon wenig beeindruckt, sondern packt das gewaltige Thema, wie er selber meint, «auf etwas postmoderne Weise» an. Darunter versteht das Aufspüren und Ausloten von Erzählungen, die Zeugnis geben von den historischen Bemühungen der Menschen um ein gutes Leben.
Werkzeugkasten der Dekonstruktion
Der erste Teil des Buches ist dieser geistesgeschichtlichen Spurensuche gewidmet. Sie beginnt mit dem viertausend Jahre alten Gilgamesch-Epos aus Mesopotamien, dem ältesten literarischen Monument der Menschheit. Sedláček nimmt die von ihm als postmodern bezeichnete Methode des Untersuchens von «Erzählungen» gern wörtlich. So versucht er mit dem Werkzeugkasten der Dekonstruktion die Ökonomie als Erzählung vom menschlichen Tun und Trachten zu deuten.
Allerdings gelangt er hier nicht sehr weit über die Ankündigung des Vorhabens hinaus. So ordnet er etwa die Theorie des «Homo oeconomicus» der Kategorie Erzählung zu; doch viel narratives Fleisch gibt‘s an diesem Knochen nicht. Richtig in Fahrt kommt Sedláček hingegen bei seinen Lektüren grosser historischer Mythen und Epen. Die Geschichte von Gilgamesch und Enkidu erschliesst sich ihm als Gründungsmythos der menschlichen Zivilisation. Da geht es um die Zähmung von Gewalt und Macht, die Erfindung planender Arbeit, um Herrscherwillen und Berechnung, aber auch um deren Gegenpol, die Freundschaft.
Umkämpfte Werte
In der Bibel der Juden findet Tomáš Sedláček einen geradezu modern anmutenden Realismus, der die Welt entzaubert und als Domäne menschlichen Wirkens und Gestaltens versteht. Die Inhaber religiöser und weltlicher Macht sind im Alten Testament der Kritik unterworfen, und es setzt ein insistierendes Fragen nach Gut und Böse ein. Besitz wird relativiert durch die schon damals kontroverse Idee des Sabbatjahres (periodische Umverteilung der produktiven Güter ans ganze Volk) und den immer wieder zu erkämpfenden Schutz der sozial Schwachen. Damit ist die zur abendländischen Kultur führende Tradition um dynamische konfliktreiche Strömungen bereichert.
Sedláček gewinnt mit seinem Gang durch die Geschichte kein lückenloses Puzzle, das einen in sich geschlossenen Wertekanon der modernen Welt und ihrer Wirtschaft ergäbe. Zu offensichtlich weisen schon die einzelnen historischen Stationen Widersprüche und Spannungen auf. So durchzieht beispielsweise eine institutionenkritische Sicht das Alte Testament, das aber dennoch dem Königtum und dem Tempel eine Heilsbedeutung zumisst.
An der Frage schliesslich, ob für die Menschen das Gutsein mit dem Wohlergehen gekoppelt sei, beisst sich – prominent in der Hiob-Geschichte – die hebräische Bibel die Zähne aus. Ihr Realismus erlaubt ihr keine glatte Bejahung, ihr Glaube an den einen guten Gott keine definitive Verneinung. Seither rumort in unserer Kultur das Dilemma zwischen der monotheistisch garantierten Einheit und Qualität der Welt einerseits und der Erfahrung von Nichtigkeit und Sünde andererseits.
Mit Aristoteles gegen totalitäres Marktdenken
Mit den Spitzen der antiken Philosophie – Sokrates, Platon und Aristoteles – wurden die bis heute tragenden Grundlagen des abendländischen Denkens gelegt. Tomáš Sedláček betont hier die Polarität zwischen platonischer und aristotelischer Philosophie. Die erste begründete den idealistischen Strang, das unablässige Streben nach Fortschritt und Vervollkommnung, aber auch die totalitären Visionen der westlichen Welt.
Die von Aristoteles ausgehende Linie führt in eine andere Richtung. Sie wendet sich in enzyklopädischer Breite den Realien zu, propagiert eine mässigende Tugendethik und sucht statt der idealistischen Vollkommenheit die realistische Verbesserung und Zweckorientierung. Angesichts dieses Gegensatzes ergreift Sedláček, der ja den marxistischen Ausläufer des idealistischen Denkens in Form einer kommunistischen Diktatur selber erlebt hat, ganz klar Partei. Den Gegner sieht er allerdings nicht mehr im Kommunismus, sondern in einem in anderer Weise totalitären, Vollkommenheit anstrebenden Marktdenken.
Sind historisch gebildete Ökonomen kritischer?
Was ist nun aber der Ertrag solcher historischer Expeditionen für das Verständnis der Ökonomie? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Einerseits schafft es Tomáš Sedláček auf bewundernswerte Weise, aus dem Gilgamesch-Epos, dem Alten Testament, den Philosophien der Antike, den Entwicklungen des frühen Christentums sowie weiteren ausgewählten Stationen der abendländischen Geistesgeschichte – namentlich Thomas von Aquin, René Descartes, Bernard Mandeville, Adam Smith – wichtige kulturprägende Motive und Strömungen herauszuschälen.
Auf der anderen Seite gelingt ihm die inhaltliche Verknüpfung der gewonnenen Einsichten im Blick auf die Kritik der modernen Ökonomie nur ansatzweise. Doch selbst in den gelungenen Fällen, in denen eine Beziehung zwischen kultur- und geistesgeschichtlichen Befunden einerseits und Hintergründen ökonomischen Denkens andererseits plausibel wird, lassen sich kaum Postulate daraus ableiten – mit Ausnahme der wie ein Mantra immer wieder vorgebrachten Forderung, die Mainstream-Ökonomie solle nicht länger blind sein für ihre eigenen Grundlagen.
Eindimensionales Fortschrittssideal
Für die Forderung nach einem breiter abgestützten und historisch tiefer reichenden Selbstbild der ökonomischen Wissensschaft liefert Tomáš Sedláček eine Menge Material und plausible Gründe. Zudem gelingt es ihm punktuell, die eingeforderten kultur- und geistesgeschichtlichen Rückbezüge zu skizzieren. Weniger stichhaltig ist jedoch seine Hypothese, ein derartig kulturhistorisch angereichertes Selbstverständnis der Ökonomie würde auch in der Praxis positive Folgen zeitigen.
Sedláček gibt sich fest überzeugt, Ökonomen mit ausreichendem Wissen um die Hintergründe modernen Wirtschaftens würden von einem differenzierteren Menschenbild ausgehen und sich nicht mehr kritiklos einem eindimensionalen Fortschrittsideal verschreiben. Dank einer humaneren Sicht würden sie von selbst das Verhalten der Menschen und die Leitvorstellungen der Wirtschaft anders steuern, nämlich auf dem Niveau der im Lauf der Geschichte erworbenen kulturellen Werte.
Stärken trotz verfehltem Konzept
Der zweite Teil des Buches ist der Versuch, diese Hypothese zu entfalten. Tomáš Sedláček untersucht hier u.a. die Frage, was die Ökonomie unter einem Bedürfnis und einem Nutzen versteht. Bei beidem prangert er die auf materielle Vorteile verengte Sicht der von ihm als «Mainstream-Ökonomie» apostrophierten Lehrmeinungen an. Obschon die Korrespondenzen mit den anfangs gebahnten Schneisen ersichtlich sind, will ihm ein solider Brückenschlag zwischen dem kulturgeschichtlichen ersten und dem ökonomiekritischen zweiten Teil jedoch nicht gelingen.
Die Erträge dies historischen Teils sind zu wenig griffig, und das im zweiten Teil skizzierte Tableau der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Fehlentwicklungen benötigt den historischen Vorbau nicht. Was Tomáš Sedláček an Kritik vorbringt, ist nämlich durchwegs nicht neu. Die entsprechenden Debatten laufen längst in Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit. Offensichtlich ist ein Rückgriff auf das Gilgamesch-Epos zumindest in expliziter Form nicht notwendig, um solch ökonomiekritische Überlegungen anstellen zu können.
Es ist die Schwäche von Sedláčeks Konzept, aus der von ihm zu Recht geforderten historischen Grundlagenforschung (er spricht etwas unkonventionell von Meta-Ökonomie) von vornherein eine wissenschaftspolitische Stossrichtung ableiten zu wollen. Die wacklige Verbindung zwischen den beiden Hauptteilen seines Buches ist die Bestätigung, dass dies nicht funktionieren kann. Stärken hat das Buch hingegen in seiner ansteckenden Neugier für kulturgeschichtliche Zusammenhänge, in der vielfach überzeugend formulierten Essenz historischer Betrachtungen und den daraus gewonnenen Einblicken in die Herkunft unserer Weltbilder und Wertsysteme.
Tomáš Sedláček: Die Ökonomie von Gut und Böse. Carl Hanser Verlag, München 2012, 447 S.