Die Druckerzunft kennt einen bezaubernden Brauch: „Gott grüss die Kunst!“, rufen die Autoren, sagt der Grafiker, wenn sie den Buchbinderbetrieb betreten. Der Gewerbler antwortet standesbewusst und überzeugt: „… und das ehrbare Handwerk!“
Die Höhen der Kunst und die Gefilde des Alltags
Ein wunderbares Junktim: die hehre Kunst und das ehrbare Handwerk. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Der Buchdruck weiss es; die Tradition zeigt es: Beides bedingt sich, Kunst und Handwerk.
Das gilt auch für die Schule. Die Höhen der Kunst und die Gefilde des Alltags, die akademischen Dachterrassen und das Gewimmel des Parterres, die Bildungsstäbe und die Frontleute, Theorie und Empirie: Auch der Unterricht braucht beides, die Denker der grossen Konzepte wie die Praktiker des Alltags. Wirkungsvoll wird erst die Verknüpfung. Grundsätzliche Entscheide sollten darum auch die Werktags-Optik mitbedenken. Hohe schulische Ansprüche brauchen fundierte Konzepte, die sich auch bei Zeitzwängen und Unvorhersehbarem bewähren. Das Prinzipielle und das Konkret-Operative müssen darum Hand in Hand gehen.
Überbau dank Ausbau nach Umbau
Doch zwischen diesen Welten öffnen sich zunehmend Gräben. Die Schule sah sich in den letzten Jahren einem Feuerwerk an Reformen gegenübergestellt und mit weitreichenden Innovationen konfrontiert – oft top-down verordnet gegen die langjährige Erfahrung der Praktiker und gegen wissenschaftlich erhärtete Befunde. Die Stichworte heissen: früher Sprachenunterricht, Heterogenität und Individualisierung, Integration und Inklusion, selbst- und kompetenzorientiertes Lernen, Qualitätsmanagement und Lehrplan 21.
Die Schule wurde radikal umgebaut, und mit diesem Umbau erfolgte ein massiver Ausbau des schulischen Überbaus. Nicht-Lehrende übernahmen vielfach die Macht, und zwar auf allen Stufen, von der Volksschule über die Gymnasien bis zu den Fachhochschulen. Mit diesem Umbau entstanden neue Hierarchien, wuchs die Bildungsbürokratie und explodierte die Schuladministration. Während die Schülerzahlen der Volksschule zwischen 1990 und 2010 um 6.3 % zunahmen, erhöhten sich die Ausgaben für das Verwaltungs- und Administrationspersonal (exkl. Lehrpersonen) im gleichen Zeitraum um 130%. (1) Deutlicher lässt sich der Ausbau der Bildungsstäbe und des Beamtenapparats nicht dokumentieren.
Was früher funktionierte, wird heute verbeamtet
Das hatte Folgen für den Schulalltag. Wer hinhört und hineinzoomt in diesen Alltag, vernimmt Erstaunliches, oft Unverständliches. Viele Lehrerinnen und Lehrer berichten Ähnliches: Da ist von Sitzungen und Konferenzen die Rede, von Arbeitsgruppen und ergebnislosen Retraiten, von minutiösen Arbeitszeit-Protokollen und Wirken am Workflow in der Q-Gruppe. (2) Die Schule werde hierarchischer, verbunden mit einer überbordenden Bürokratie; sie fühlten sich nicht mehr ernst genommen und hätten immer weniger Zeit für die Kernaufgabe, das Unterrichten, berichten Lehrpersonen. (3) Und ein langjähriger passionierter Gymnasiallehrer gibt zu bedenken: Zu wenige würden von einer Idee von „Bildung“ geleitet, die jenes Orientierungswissen aufbauen könnte, das junge Menschen unbedingt brauchen. Die Institution Schule sei ein „Verwaltungsapparat“ geworden. (4)
Eben: Der administrative Aufwand werde immer grösser, und doch habe man immer weniger zu sagen, meint ein anderer Mittelschullehrer, und er zählt auf: standardisierte Vergleichstests, immer wieder Fragebögen, die akribisch ausgewertet werden müssen, Mitarbeitergespräche, an denen Zielvereinbarungen formuliert werden, Formulare für die Absenzen und die Praktika, Prüfungsdokumentationen. (5) Dazu kommen Rapporte an praxisferne Bereichsleiter und Schulhausleiterinnen, die sich so einen Überblick verschaffen müssen, weil sie selber nicht mehr unterrichten.
Schuladministration zu Lasten der Lehrpersonen
Hierarchisch bedingte Vorgaben engen den pädagogisch notwendigen Freiraum zunehmend ein. Das hat auch mit den teilautonom geleiteten Schulen zu tun. „Ein Ziel dieser Reform war die Entlastung von Bürokratie. Genau die ist aber seit der Einführung der geleiteten Schulen explodiert“, schreibt Christina Rothen, Universität Zürich, in einer Analyse. (6)
Die Folge: ein oft unnötiger und kräftezehrender Aktivismus im Operativen. Ein Wegdriften vom Eigentlichen und Wesentlichen, dem guten und lerneffizienten Unterricht. Je stärker die Schuladministration wird, desto schwächer wird die Stellung der Lehrpersonen.
Und die Ergebnisse?
Wer den Überbau derart auf- und ausbaut, der muss wohl bessere Leistungen an der pädagogischen „Front“ erwarten. Dass dem nicht durchwegs so ist, zeigt ein Beispiel aus dem Bereich Deutsch ganz deutlich:
Eine neuere Studie des Kompetenzzentrums für Bildungsevaluation an der Universität Zürich kam zu deprimierenden Ergebnissen: 1’500 Zürcher Sechstklässlerinnen und Sechstklässler wurden auf ihre Deutschkenntnisse hin befragt. Nicht weniger als 36% konnten nur den Sachverhalt eines einfachen Textes verstehen, gar 15% hatten grösste Mühe, einfache Worte eines Textes und den Zusammenhang zu begreifen. Jeder zweite Schüler genügte also nur knapp den Anforderungen der Sekundarstufe. (7)
Es ist eine unbestrittene Tatsache: Das teuerste Schulsystem der Welt (8) bringt es fertig, dass ein Fünftel der Schüler nicht einmal die tiefsten Standards beim Lesen erreicht. Sie werden praktisch als Illetristen aus der neunjährigen Schulpflicht entlassen.
Mehr Experten machen das Team nicht besser
Der exponentielle Ausbau des Überbaus und das pädagogische Bodenpersonal – ob das Verhältnis noch stimmt? Zweifel sind angebracht. Ein Vergleich drängt sich auf: Ein 118-köpfiger Betreuerstab begleitete die deutschen Fussballer an die Weltmeisterschaft in Russland. Die Hoffnung war gross, das Ergebnis ernüchternd. Zu viele Experten hätten im deutschen Stab mitgeredet; das sei „Gift“ für die Arbeitsatmosphäre gewesen, schreibt „Die Zeit“. Die grosse Berater-Crew sei „wie ein Tanker mit langem Bremsweg. Jeder will da mitreden und wichtig genommen werden.“ (9)
Das legendäre FC Basel-Führungsteam unter Bernhard Heusler und Georg Heitz hatte eine goldene Regel: Vor der Kabinentür ist Endstation. Weder mischte sich das Duo in mannschaftsinterne Angelegenheiten ein, noch wurden die heiligen vier Wände ausgehorcht. Was drinnen geschah, war Sache des Trainers. Punkt. (10)
Die Stabsleute und das „ehrbare Handwerk“
Ob sich hier Parallelen ergeben? Was im Schulzimmer vor sich geht, ist Sache der Lehrerin, das weiss der Lehrer am besten. Punkt. Die Ziele müssen klar sein, von oben vorgegeben und über den Lehrplan koordiniert. Das ist unbestritten. Die Methode aber bleibt Sache der verantwortlichen Lehrperson. Sie kennt das „ehrbare Handwerk“ besser als praxisferne Bildungsleute. Und wenn Lehrerinnen und Lehrer im Rahmen der wirklich notwendigen Vorgaben frei ihre Persönlichkeit entfalten können, unterrichten sie wohl spontaner und wirkungsvoller. Darüber nachzudenken wäre edle Stabsarbeit.
(1) René Lenzin: Bildungsausgaben verdoppeln sich in 20 Jahren beinahe. In: Tages-Anzeiger 02.12.2013.
(2) Ruedi Beglinger: Was früher funktionierte, wurde verbeamtet. In: Zuger Zeitung, 08. August 2018, S. 16.
(3) Bettina Dyttrich: Der Umbruch kam auf leisen Sohlen. In: WOZ, 28.01.2016, Nr. 04.
(4) Simona Skrout: Pensionierungen 2018. In: Falter Kantonsschule Zug. Juni 2018.
(5) Dyttrich, a. a. O.
(6) Vgl. Christina Rothen: Selbstständige Lehrer, lokale Behörden, kantonale Inspektoren. Verwaltung, Aufsicht und Steuerung der Primarschule im Kanton Bern 1832-2008. Zürich: Chronos, 2015.
(7) Mario Andreotti: Frühdeutsch ist wichtiger als Frühenglisch. In: Luzerner Zeitung, 26.07.2018, S. 2.
(8) SKBF: Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, 2018, S. 73.
(9) Jörg Kramer: Sein Wort in Götzes Ohr: In: DIE ZEIT, 09.08.2018, Nr. 33, S. 18.
(10) Markus Wanderl: Wickys Entlassung im FC Basel. In: NZZ, 27.07.2018.