Fast alle Demoskopen prophezeien Trump eine Niederlage. Wie schon vor vier Jahren.
Der Präsident und seine Anhänger machen sich Mut. Sie klammern sich daran, dass sich die Meinungsforscher bei den letzten Wahlen blamierten. „Sie werden sich auch diesmal blamieren“, glaubt der Präsident zu wissen.
Trump sagte diese Woche, er erwarte eine „grosse rote Welle“. Rot ist die Farbe seiner republikanischen Partei. Millionen neuer Trump-Wähler würden von den Demoskopen nicht berücksichtigt, erklärte er.
„A big polling error“?
Wie ein Getriebener spurtet er in diesen letzten Tagen vor den Wahlen von Bundesstaat zu Bundesstaat, von Auftritt zu Auftritt. So wie er es vor vier Jahren getan hat. Damals gelang es ihm, im letzten Moment das Steuer zu seinen Gunsten herumzureissen. Gelingt es ihm auch diesmal?
Um doch noch zu gewinnen, bräuchte Trump „a big polling error“ der Umfrage-Institute, schreibt der renommierte Demoskop Nate Silver diese Woche. Irren sich die Meinungsforscher diesmal erneut?
Auf nationaler Ebene führt Biden klar mit einem Vorsprung von 9 Prozent. Doch nicht das Total der Stimmen aller Bundesstaaten ist wichtig. Entscheidend sind die Wahlen in den Schlüsselstaaten (Battleground States, Swing States).
Hauchdünne Siege
In einigen von ihnen hatte Trump vor vier Jahren Hillary Clinton mit einem hauchdünnen Vorsprung geschlagen.
In Michigan gewann Trump mit einem Vorsprung von 0,3 Prozent, in Pennsylvania und Wisconsin waren es 0,7 Prozent.
Diese drei Siege brachten ihm zusätzlich 46 Elektoren-Stimmen (Wahlmänner/Wahlfrauen-Stimmen) – und damit den Gesamtsieg. Ohne diese drei Staaten hätte er die Wahlen nicht gewonnen.
Hunderttausende Daten
Nate (Nathan) Silver gilt als der einflussreichste amerikanische Demoskop und Wahlstatistiker. Sein Institut „FiveThirtyEight“ hat einen guten Ruf (der Name bezieht sich auf die 538 Wahlleute im „Electoral College“).
Silver sammelt Hunderttausende Daten. Er berücksichtigt das Alter der Befragten, den Anteil der Weissen, der Schwarzen und der Latinos, die Ausbildung der Befragten, ihr Beruf, ihr soziales Umfeld. Wo wohnen sie, in Dörfern, in Städten, in Agglomerationen, wie haben sie früher gewählt, gehen sie zur Kirche, gehören sie einem Verein an? Und so weiter.
„Wir hatten vor vier Jahren die weniger Gebildeten in unseren Umfragen vernachlässigt“, gesteht Nate Silver. Das sei jetzt korrigiert worden. Den Umfragen sei also mehr zu trauen.
Fehlermarge: minus/plus 2-4 Prozent
Aber: Man kann tausende Befragungen durchführen, man kann alles berücksichtigen – trotzdem: jede Umfrage wird immer eine Fehlermarge beinhalten. Diese Fehlerquote beträgt je nach Anzahl der Befragten, je nach Umfrageinstitut und je nach Methode der Befragung zwischen minus/plus 2 bis 3 Prozent. Associated Press (AP), die grösste amerikanische Nachrichtenagentur, die auch Umfragen durchführt, spricht sogar von minus/plus 4 Prozent.
Kein Meinungsforschungsinstitut, und arbeite es noch so professionell, kann ein haargenaues Ergebnis voraussagen. Anders gesagt: Es ist unmöglich zu prophezeien, ob ein Kandidat oder eine Kandidatin 0,3 oder 0,7 Prozent mehr oder weniger Stimmen erhalten wird.
Man muss deshalb für Nate Silver und die anderen Forscher Verständnis haben, wenn sie die „Blamage“ vor vier Jahren zu relativieren versuchen. Denn die Ergebnisse, die sie damals voraussagten, lagen innerhalb dieser Fehlermarge.
Schwierige Prognosen
Auch diesmal kann es da und dort sehr knapp werden. In mehreren wichtigen Staaten liegen auch jetzt die Prognosen der Institute im Fehlerbereich von minus/plus 2 bis 4 Prozent.
In Florida zum Beispiel führt Biden laut dem Umfrage-Aggregator „Real Clear Politics“ (Stand: Freitag) mit 1,2 Prozent, in North Carolina mit 0,6 Prozent, in Iowa mit 1,4 Prozent, in Arizona mit 2,4 Prozent. In Georgia liegt Trump mit 0,4 Prozent vorn, in Ohio mit 0,1 Prozent, in Texas mit 2,3 Prozent. Diese Zahlen variieren oft stündlich.
Eine seriöse Prognose ist also in vielen Staaten nicht möglich. Diese Feststellung ist umso wichtiger, als in einigen dieser Bundesstaaten viele Elektoren-Stimmen vergeben werden. In Florida sind es 29, in Texas 38, in Ohio 18, in North Carolina 15. Sie können wahlentscheidend sein.
Alle Blicke richten sich auf Pennsylvania
Aber: Wichtig sind diesmal nicht Texas, Florida und Ohio. Entscheidend sind Pennsylvania, Michigan und Wisconsin, also jene drei Staaten, die Trump vor vier Jahren mit 0,3 und 0,7 Prozent gewonnen hatte.
In zwei dieser drei Staaten prophezeien die Umfragen ein Ergebnis für Biden, das ausserhalb der möglichen Fehlermarge liegt. In Michigan liegt Biden mit 6,5 Prozent vor Trump, in Wisconsin 6,4 Prozent. Es wäre eine grosse Überraschung, wenn Biden in diesen beiden Staaten nicht gewänne.
Eine Schlüsselstellung nimmt Pennsylvania ein. Der Staat ist ein Schwergewicht und verfügt über 20 Elektoren-Stimmen. Dort wittert der Präsident eine Chance, doch noch zu gewinnen.
Trump holt auf
„Pennsylvania“, schreibt Nate Silver, „ist wahrscheinlich der Staat, in dem die Wahlen entschieden werden.“ Trump war am Montag dreimal in Pennsylvania vor begeisterten Anhängern aufgetreten. Auch seine Frau Melania, seine Tochter Ivanka und seine frühere Mediensprecherin Sarah Sanders traten dieser Tage in Pennsylvania auf.
Vor zwei Wochen hatte Biden in Pennsylvania noch einen Vorsprung von 7,3 Prozent. Dieser ist jetzt – vier Tage vor der Wahl – auf 4,3 Prozent (Stand: Freitag), geschrumpft.
Pennsylvania, der einstige Schwerindustrie-Staat im „rust-belt“, litt unter dem wirtschaftlichen Strukturwandel besonders stark. Der frühere Kohle- und Stahlstaat zwischen New York und dem Erie-See hat 13 Millionen vorwiegend weisse Einwohner. Ihnen versuchte Trump 2016 klar zu machen, dass sie nur mit ihm eine wirtschaftliche Überlebenschance haben.
Die magischen 270 Elektoren-Stimmen
Als vor vier Jahren das Ergebnis von Pennsylvania eintraf, stand fest: Trump hat die Wahlen für sich entschieden. Landesweit hatte er 306 Elektoren-Stimmen gewonnen. Nötig, um Präsident zu werden, sind mindestens 270 Stimmen.
Gewinnt er diesmal erneut Pennsylvania, hat er grosse Chancen, erneut Präsident zu werden – selbst wenn er Michigan und Wisconsin verliert.
Verliert er allerdings all diese drei Staaten, käme er nur noch auf ein Total von 260 Elektoren-Stimmen – 10 weniger als nötig. Dies immer unter der Voraussetzung, dass er alle anderen Staaten, die er vor vier Jahren gewann, erneut gewinnen wird.
Unbeliebter Präsident
Doch das ist keineswegs sicher. Der Präsident schwächelt arg. Eine klare Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner stehen ihm negativ gegenüber. Landesweit sprechen sich 52 Prozent der Befragten für Biden und nur 43 Prozent für Trump aus. Kurz nach Beginn seiner Amtszeit wurde er zum unbeliebtesten amerikanischen Präsidenten. 54 Prozent der Befragten lehnen seine Amtsführung (Job approval) ab.
Die Sympathiewelle, die ihm vor vier Jahren entgegenschlug, brach jäh zusammen – auch in traditionell republikanischen Gefilden. In Texas zum Beispiel gewann er 2016 mit einem Vorsprung von 9 Prozent. Jetzt liegt er bei +2,3 Prozent.
In Ohio gewann er vor vier Jahren mit einem Vorsprung von 8,1 Prozent, jetzt werden +0,0 Prozent (Tie) errechnet. In Georgia gewann er mit +5,1 Prozent; jetzt liegt er bei +0,4 Prozent.
Offenes Rennen in mehreren Staaten
Auch wenn die Umfragen ein äusserst knappes Ergebnis zeigen: Biden hat – neben Pennsylvania, Michigan und Wisconsin – echte Chancen, einige andere umstrittene Staaten zu gewinnen: zum Beispiel Arizona, North Carolina, Iowa und Florida.
Dass er Texas gewinnen würde, wäre allerdings eine Riesenüberraschung, obwohl Trump dort in den letzten Tagen stark an Zuspruch verliert.
Spannend wird es in Ohio. Die Zeit ist vorbei, in der es hiess, wer Ohio gewinnt, wird Präsident. Obama hatte Ohio verloren und wurde Präsident.
Die wichtigen 5 Prozent
Im Vergleich zu den Wahlen vor vier Jahren hat sich vieles geändert. Trump hat das Land extrem polarisiert. Zwei unversöhnliche Lager stehen einander gegenüber. Trotz einer katastrophalen Corona-Politik, trotz Lügen und flegelhaftem, egozentrischem Auftreten, trotz einer kläglichen Regierungsbilanz halten die Trump-Anhänger Stein und Bein fest zu ihm.
Andererseits: Auch das Anti-Trump-Lager tritt ihm wenig zimperlich gegenüber.
Dazwischen gibt es ein kleine Schicht von Amerikanern und Amerikanerinnen, die nicht stur und blind einem der beiden Lager angehören. Sie beurteilen die Kandidaten aufgrund ihres Programms, ihres Erfolgsausweises und ihres Auftretens. Man schätzt, dass der Anteil dieser Leute bei weniger als 5 Prozent liegt. Doch diese 5 Prozent sind wichtig.
Frauen gegen Trump?
Gerade in dieser Kategorie scheint Trump an Unterstützung verloren zu haben. Unter ihnen befinden sich viele Frauen, auch die vielbeschworenen weissen „Suburban Housewives“. „Wenn Trump abgewählt wird“, schreibt die New York Times, „liegt das auch an den Frauen“.
Ein Schlag für Trump ist auch, dass sich die traditionell republikanische Wirtschaft, die Wallstreet, von ihm absetzt und jetzt Biden favorisiert. Auch die meisten Zeitungen im Land sprechen sich für den Demokraten aus.
Die Stimmen für Trump vor vier Jahren waren oft Stimmen nicht für Trump, sondern gegen Hillary Clinton. Sie, die Vertreterin des Washingtoner Establishments, die die Nöte der kleinen Leute nicht kennt, wie ihr vorgeworfen wurde, war für viele ein Feindbild. Biden hat dieses Problem nicht.
Unwahrscheinlich, aber möglich
Nate Silver prophezeit: „Biden is favored to win the election“. Und CNN schreibt: Es gibt keine Anzeichen, dass Trump noch den „nötigen Schwung aufbauen kann“, um doch noch zu gewinnen.
Doch gewonnen hat Biden noch längst nicht. Vieles ist noch offen, und einiges hängt vielleicht auch vom Zufall ab – so, wie die Ergebnisse vor vier Jahren in Pennsylvania, Michigan und Wisconsin.
Ein Sieg Trumps ist zwar eher unwahrscheinlich – aber noch immer im Bereich des Möglichen.