Seine erfolgreichen Bücher behandelten zum Beispiel E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer, Heidegger, Nietzsche, Schiller, Goethe – und nun: Zeit. Wie immer schreibt der Literaturwissenschafter Rüdiger Safranski nicht für ein Fachpublikum, sondern er popularisiert seinen Stoff. Bei seinen Dichter- und Philosophenbiographien – zuletzt Goethe – Kunstwerk des Lebens. Biographie, 2013 – hat das wunderbar funktioniert. Safranski versteht es, Geistesgeschichte zu erzählen, indem er das Bild eines Lebens und Werks anreichert mit dessen Einbettung in die Zeitumstände sowie mit der Deutung persönlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen.
Mit dem neuen Buch hat dieser Autor sich eine Aufgabe ganz anderer Art gestellt. Das Phänomen Zeit unter philosophischen, naturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und psychologisch-kognitiven Aspekten abzuhandeln in einem feuilletonistischen Text von 250 Seiten – das ist fürwahr ein sportliches Vorhaben.
Um es vorwegzunehmen: Safranski hat sich mehr als nur anständig aus der Affäre gezogen. Allerdings konnte aus diesem Stoff keine spannende Erzählung nach Art seiner Biographien werden. Für das Zeit-Buch hat er stattdessen eine andere unterhaltende Form gefunden: die gelehrte Plauderei.
Das Nichts und das Anfangen
Safranski setzt ein bei einem Phänomen, das alle kennen: der Langeweile. Als Erfahrung von «leerer Zeit» führt sie zum nicht denkbaren Gedanken des Nichts, der die Romantiker umtrieb und zum grossen Thema der Moderne avancierte. Martin Heidegger hat seine Philosophie des Seins aus einer eindringlichen Analyse des Nichts heraus entwickelt. Sein und Zeit (so hiess der Titel seines epochalen 1927 erschienenen Hauptwerks) sind keine objektiven Gegebenheiten. Der Mensch ist es, der die Zeit aus sich heraussetzt; er «zeitigt» sie, wie Heidegger sagt. Der Mensch, der sich denkend dem Nichts aussetzt, erlebt seine Wiedergeburt aus dem toten Punkt.
Das Anfangen aus einem Nichts scheint zur menschlichen Grundbefindlichkeit zu gehören. Es spiegelt sich in der Literatur, die sich immer wieder als ein Probehandeln des Anfangens erweist. Die Vorstellung eines voraussetzungslosen Beginnens steht quer zum intuitiv viel näherliegenden Denken in Kausalitäten, das vor jedem Anfang das Bedingende sucht und so – manchmal unbemerkt – der Idee der Freiheit zuwiderläuft.
Safranski stellt diesem Kausalitätsprinzip, das alles in Notwendigkeiten verkettet, die christliche Lehre der Creatio ex nihilo gegenüber. Diese Schöpfung aus dem Nichts ist ein Vorgang, der nicht hätte sein müssen, ein Akt der Freiheit. Allerdings kann die so verstandene Welt nur bestehen dank der Creatio continua, welche die Schöpfung davor bewahrt, nur ein kreativer Augenblick zu sein und sich wieder aufzulösen im Nichts. Diese Schöpfungslehre ist die erzählte Form einer religiös-philosophischen Spekulation, welche die seinsmässige Vorrangigkeit des Anfangens gegenüber der Kausalität postuliert.
Würde, Verantwortung, Verpflichtung
Hannah Arendt, eine Schülerin Heideggers, hat diese Vorrangigkeit des Anfangens zum Kern ihrer Lehre vom Menschen gemacht. Dessen innerstes Wesen erkennt Hannah Arendt in der Natalität, der Tatsache des Geborenseins. Jede menschliche Existenz gründet auf dem Anfangen. Jeder Mensch ist einmalig, weil er als Anfangswesen nicht determiniert, sondern zur Freiheit bestimmt ist.
Freiheit, so Arendt, ermöglicht dem Menschen stets wieder neue Anfänge. Sie gibt ihm ein Recht auf persönliche Entwicklung. Die Würde der Person und der zwischenmenschliche Respekt haben daher bei Hannah Arendt ihren eigentlichen Grund in der Natalität.
Prüfstein der aus lauter Anfängen geformten Person ist die Zeit: Das Selbst kann nur gesellschaftsfähig sein, indem es sich rückwärts zur Vergangenheit und vorwärts zur Zukunft mit sich identifiziert. Das heisst, es übernimmt heute und morgen die Verantwortung für das, was es gestern war; und es lässt sich morgen behaften bei den Verpflichtungen, die es gestern und heute eingegangen ist.
Die zeitliche Verbindung ins Vergangene und Zukünftige ist auch für die Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. In entwickelten Gesellschaften ist Geld das Mittel zur Bewirtschaftung von Zeit. Geld erlaubt Konsumaufschub und ermöglicht es, aus dem in der Vergangenheit Erwirtschafteten ein abstraktes Vermögen zu bilden. Umgekehrt dient es in der Form des Kredits auch zu einem auf Zukunft gerichteten wirtschaftlichen Agieren.
Der Protestantismus hat ein «heilsökonomisches» Zeitregime errichtet, in dem sich solche Züge der Kapitalwirtschaft widerspiegeln: Man muss die irdische Zeit nutzen, um das «Kapital» eines gottgefälligen Lebens «anzusparen», und dies um so mehr, weil man nicht wissen kann, welches göttliche Urteil man nach dem Tod dereinst zu gewärtigen hat, oder anders gesagt: welchen Wert das angehäufte «Kapital» dann haben wird.
Das Reich Gottes und die Relativitätstheorie
Das Christentum hat lange vor dem Kapitalismus reformiert-calvinistischer Prägung ein stark auf Zukunft fokussiertes Zeitverständnis gekannt. Seine Disposition zur Voraus-Spannung kristallisierte sich in mythischen Vorstellungen vom kommenden Ende der Zeiten. In der christlich geprägten Kultur ist diese Ausrichtung nach vorn auch unabhängig von religiösem Glauben lebendig geblieben. Das «Reich Gottes» wurde zum Modell einer modernen säkularen Eschatologie (von eschaton, das Letzte), wie sie bei Hegel und Marx systematisch ausgeformt wurde.
Der Gedanke eines Zielpunkts der Geschichte findet später dann eine Entsprechung in der Vorstellung einer vorausgegangenen Evolution. Seit Ende des 18. Jahrhunderts ist im Abendland allgemein akzeptiert, dass die Geschichte sich in der Idee der Entwicklung erfassen lasse. Dieser Gedanke ist durch moderne Astrophysik auf das Weltganze ausgedehnt worden: Der Kosmos hat einen Anfang, eine «Geschichte» und geht auf ein Ende zu. Safranski referiert den Stand der entsprechenden Theorien in atemberaubendem Schnelldurchgang. (Leider mit falsch dargestellten Zahlen: Die schwarzen Löcher zerfallen bei ihm in 1066 statt in 10 hoch 66 Jahren.)
Einsteins bahnbrechende Spezielle Relativitätstheorie von 1905 nimmt in Safranskis Darstellung den gebührenden Platz ein. Auf zwölf Seiten erklärt er Einsteins Raumzeit. Der Darstellung Punkt für Punkt zu folgen, ist für Nicht-Physiker ein geistiges Fitnesstraining und lohnendes Abenteuer. Interessant ist übrigens, dass ähnliche Ideen schon zweihundert Jahre vor Einstein entwickelt wurden. Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646-1716) hatte bereits relationistische Vorstellungen von Raum und Zeit formuliert, die seiner Epoche um Lichtjahre voraus waren.
Ewigkeit und Zeit
Von Astrophysik und relationaler Raumzeit wendet sich Safranski am Ende wieder humanen Zeitdimensionen zu. Platons Dialog «Timaios» aus dem 4. Jahrhundert vor Christus gilt ihm als Grundbuch des abendländischen Denkens über Zeit. In Platons Werk wird sie beschrieben als bewegtes Abbild der Ewigkeit, die als reine Idee nicht auf die Natur übertragbar ist. Das Ewige ist jedoch nahe in jener Berührung mit der Zeit, die der Mensch erlebt als das Jetzt.
Es war Augustinus – er lebte im 4. und 5. Jahrhundert im heutigen Algerien –, der mit seinen Reflexionen zum Phänomen der Zeit dieses Jetzt philosophisch und kognitionstheoretisch näher bestimmt hat. Er beobachtete, dass das Sein von Vergangenem einzig in der Gegenwart der Erinnerung besteht – und das Sein des Kommenden ausschliesslich in der Gegenwart des Vorausdenkens. Die einzige seiende Zeit ist also die Gegenwart. Doch diese ist auf dem gedachten Zeitstrahl nur ein ausdehnungsloser Punkt, also ein Nichts. Das führt zu einer paradoxen Erkenntnis: Die Zeit ist, und sie ist zugleich nicht.
1500 Jahre später konnte der Begründer der philosophischen Phänomenologie, Edmund Husserl (1859-1938), unmittelbar an Augustins Gedanken anknüpfen. Zeit, obwohl als punktuelle Gegenwart nicht fassbar, ist für den Menschen dennoch ein Phänomen der Erfahrung. Diese beruht auf Protention (nach vorn gerichtete Spannung, Vorausschau) und Retention (Rückhaltung, Erinnerung), welche um den ausdehnungslosen Jetzt-Punkt herum eine kleine Zeitspanne bilden, die als die Gegenwart erlebt wird. Dank diesem Präsentsein in einem nach «hinten» und «vorn» offenen Jetzt kann der Mensch beispielsweise eine Tonfolge als Musik und eine Laut- und Bewegungssequenz als Gespräch wahrnehmen.
Gedanklich kommt man aber nicht über Augustins Paradox hinweg, dass es das Sein der Zeit nur gibt im ausdehnungslosen Jetzt – und es deswegen zugleich ist und nicht ist. Ludwig Wittgenstein konnte daher mit Bezug auf Platon und Augustinus sagen: Wer im Jetzt lebt, lebt «ewig». In diesem Jetzt gibt es ja streng genommen keine Zeit. Ewigkeit, das schärft Safranski seinen Lesern mehrfach ein, ist nicht unbegrenzte Zeit, sondern etwas anderes als Zeit.
Suche nach dem Ewigen
Dieses «Andere als Zeit» ist erfahrbar in Momenten intensiver Gegenwart: in der Liebe, in vielen Arten der Hingabe, in mystischen Erfahrungen und ganz besonders auch in Begegnungen mit Kunst. In der Moderne suchen Menschen solche Gegenwart von «Nicht-Zeit» vielfach weniger im Religiösen als im Ästhetischen. In Theodor Adornos ästhetischer Theorie ist denn auch das Kunsterlebnis ein Moment des aus der Zeit fallenden Innehaltens, die «kleine Ewigkeit».
Vermutlich ist Adornos kleine Ewigkeit ein Nachhall auf die tief im kollektiven Unbewussten verankerte Sehnsucht nach Überwindung der Sterblichkeit. Die Realität des Todes gilt dem abendländischen Denken und Fühlen als der ultimative Skandal: Das einzig Gewisse am Leben ist ausgerechnet das, was man unbedingt vermeiden möchte. Um diese Fatalität zu entschärfen, suchten und suchen Menschen Trost bei Gedanken von Unsterblichkeit und ewigem Leben.
Die christliche Lehre der Auferstehung von Geist und Leib meint ursprünglich etwas ganz anderes als Unsterblichkeit; die beiden Vorstellungen wurden erst später miteinander vermischt. Der Auferstehungsglaube setzt den Tod voraus; die ganze aus Leib und Geist bestehende Person stirbt. Eine unsterbliche Seele ist da überhaupt nicht denkbar. Vielmehr werden die Toten dereinst am Ende der Zeiten auferweckt, um vor dem Jüngsten Gericht Belohnung oder Strafe zu empfangen. Safranski weist darauf hin, diese apokalyptische Auferstehungsvorstellung habe beigetragen zum Ernstnehmen und zur Hochschätzung der Person als freiem und verantwortlichem Individuum.
Trotzdem ist das christliche Auferstehungsdogma einem modernen Denken schwerlich zu vermitteln. Safranski meint, die darin zum Ausdruck kommende Ich-Bezogenheit des Glaubens habe ihre problematischen Seiten. Demgegenüber erachtet er eine Haltung dem Tod gegenüber, wie sie sich in der Redewendung «das Zeitliche segnen» äussert, viel eher als human. Wer das Zeitliche segnet, nimmt Abschied von der Welt und erklärt ohne Neid sein Einverständnis mit dem Fortleben der anderen. – Der ausgedehnte Gedankengang, der mit der Wiedergeburt aus dem toten Punkt der leeren Zeit begonnen hat, endet mit der gelassenen Rückkehr zu diesem Nichts, das den Menschen ohnehin auf Schritt und Tritt begleitet.
Safranskis gelehrte Plauderei ist ebenso bereichernd wie unterhaltend. Er hat eine bewundernswerte Form gefunden, die Leser an sein breites und fundiertes Wissen heranzuführen und sie gewissermassen ins Gespräch zu verwickeln. Es gibt wenige, die das so wie er beherrschen.
Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Carl Hanser Verlag, München 2015, 272 S.