„Es musste einst eine stolze Strasse gewesen sein, die nun im Niedergang begriffen und von jener bleiernen Müdigkeit umhüllt war wie der Rest des Sozialismus in den 1980er Jahren.“ Er habe sich „als der letzte Zeuge“ gefühlt, schreibt Harf Zimmermann. 1985 mussten wegen Baufälligkeit die meisten Balkone abgenommen werden, und „als 1987 die letzte der grossen Linden gefällt war, weil die Gasleitung undicht und der Boden vergiftet war, schien alles zu Ende zu gehen".
Spezifische Aufnahmesituation
1986 und 1987 ging Harf Zimmermann von Wohnung zu Wohnung, von Hinterhof zu Hinterhof, zu den Läden und Plätzen, um dort die Einwohnerschaft zu fotografieren. Meistens stehen die Menschen in grösseren Gruppen zusammen, hin und wieder treten sie zu zweit auf. Es gibt nur ganz wenige Aufnahmen von Einzelnen. Auf allen Fotos herrscht eine spezielle Atmosphäre, die nicht allein mit der „bleiernen Müdigkeit“ zusammenhängt. Vielmehr hat Harf Zimmermann eine ganz spezifische Aufnahmesituation geschaffen.
Die hing damit zusammen, dass er meistens eine sperrige, schwere und umständlich zu bedienende Plattenkamera verwendete. Jede Aufnahme erforderte eine entsprechende Vorbereitung, und die Belichtungszeiten waren so lang, dass sich die Porträtierten nicht bewegen durften. Jeder Einzelne war damit am Gelingen des Bildes unmittelbar beteiligt.
Grossformatige Kameras haben den Vorteil, dass die Bilder detailreich und extrem fein gezeichnet sind. Der Feierlichkeit der Aufnahmesituation entspricht die Qualität der Bilder. Unterstrichen wird die Besonderheit der Fotos, die im Freien entstanden, auch dadurch, dass sie allesamt schwarzweiss sind. Zudem achtete Zimmermann auf diffuses neutrales Licht. Das Grau der verfallenden Hufelandstrasse und überhaupt des Niedergangs der DDR wirkt wie eine immerwährende Dämmerung.
Erzählende Bilder
In dieser speziellen Bildatmosphäre scheinen die Porträtierten zum Fotografen eine spezielle Nähe zu haben. Sie sind nicht einfach nur fotografische Objekte; da schwingt sehr viel mehr mit. Welche Elemente dabei eine Rolle spielen, erläutert Harf Zimmermann in einem aufschlussreichen Gespräch mit Felix Hoffmann, das dem Band beigefügt ist. Hoffmann fragt darin nach Parallelen zu den Fotos von August Sander. Darauf Zimmermann: „Mir ging es nicht um eine enzyklopädische Aufzählung wie bei August Sander – auch wenn er für mich sehr wichtig war. Mir ging es eher um eine Erzählung.“
Bei Sander erscheinen die Porträtierten immer wie aus grosser Distanz. Bei Zimmermann gibt es Elemente gegenseitigen Verstehens, eine Gemeinsamkeit, gemeinsame Geschichte und gemeinsames Schicksal. Das berührt unmittelbar.
Zu Hause
Zimmermann hat nicht nur im Freien fotografiert. Er hat seine Nachbarn auch in ihren Wohnungen aufgesucht. Dafür verwendete er Farbmaterial, denn die Wohnungen waren, wie er selbst sagt, farbenfroh. Die Intimität der Strassenbilder wird hier noch dadurch gesteigert, dass jetzt die liebevoll eingerichteten Wohnungen zum Thema werden.
Diese Fotos wirken noch stärker inszeniert und zugleich noch authentischer, weil die Bühne jetzt die eigene Wohnung ist, auf der sich Menschen zeigen: „Das sind wir, hier in unserer Wohnung.“ Dafür wurde aufgeräumt, geputzt, und man hat sorgfältig den Platz für die Aufnahme und den Rahmen bestimmt. Die Menschen haben sich nicht einfach auf ihr Sofa gesetzt. Wenn das Sofa nicht als optimaler Platz für die Aufnahme erschien, dann versuchte man es so lange anders, bis alle meinten, dass es jetzt stimme.
Jedes Bild mit den Details der Wohnungseinrichtungen und den Menschen mit ihren Gesten, Blicken und Haltungen ist wie ein Roman. Man blickt hier sehr, sehr tief. Die Bilder von Harf Zimmermann versetzen uns in eine Welt, die westlichen Augen verschlossen war und nun untergegangen ist.
Das Recht der Nostalgie
Am Ende des Bandes steht ein Essay von Joachim Gauck. In seiner Sensibilität und seiner Klarheit steht er den Bildern in nichts nach. Gauck beschreibt, wie er und seine Freunde sich nach Freiheit gesehnt haben. Als quasi über Nacht das gesamte Leben in der ehemaligen DDR umgepflügt wurde, entstand viel Nostalgie. Gauck beschreibt nun, dass er und seine Mitstreiter dafür zunächst gar kein Verständnis aufbringen konnten, war doch die Freiheit das höchste aller irdischen Güter.
Jetzt aber, Jahrzehnte später und nach langem Nachdenken, wird Gauck klar, dass selbst in der miefigen, nahezu trostlosen Enge Geborgenheitsgefühle entstehen konnten. Diese Gefühle haben ihre Berechtigung, auch wenn die politischen Vorzeichen dafür abgelehnt werden müssen.
Gauck kannte die Hufelandstrasse. Eindringlich schildert er, dass sie mit ihrer Bausubstanz und ihren Bewohnern zu DDR-Zeiten immer etwas Besonderes war. Nur Eingeweihte kannten dieses Biotop. Auch nach der Wende wurde es, anders als etwa der Prenzlauer Berg, von Touristenströmen verschont. Dafür aber geschah etwas anderes, das vielleicht schlimmer ist:
Schönes neues Biotop
Die Häuser wurden saniert, die Wohnungen nach heutigen Standards neu gestaltet, und auch die Strasse den westlichen Vorstellungen angepasst: reichlich Grün, Boutiquen, Cafés. Gauck besucht diese Strasse und ist beeindruckt. Aber es gibt etwas, das ihn enorm stört.
Die alten Bewohner sind weitgehend verschwunden: „Manche Altbewohner flüchteten bereits vor der Sanierung, andere wurden in der Umbruchzeit durch unsanfte Behandlung zur ‚Ummietung‘ gedrängt, noch andere konnten die sanierten Wohnungen aus finanziellen Gründen nicht halten.“ Neue Bewohner aus dem Westen sind gekommen. Aber nicht irgendwelche, sondern ein ganz bestimmter Typus. Es handelt sich dabei um gut situierte Mittelschichtfamilien mit Kindern, die allergrössten Wert auf ein homogenes Umfeld legen. Und so haben sie die Hufelandstrasse zu ihrem kindergerechten Biotop gemacht. In den Augen Gaucks ist hier eine „Weltanschauungsgemeinschaft“ entstanden, in der er nicht würde leben wollen.
Harf Zimmermann, Hufelandstrasse 1055 Berlin, Steidl, Göttingen 2017, 34 Euro. Dieser Band erscheint im Zusammenhang mit der Ausstellung, „Harf Zimmermann Hufelandstrasse 1055 Berlin“, in der C/O Berlin Foundation, Hardenbergstrasse, Berlin, bis 2. Juli 2017