Tourismus und Fotografie treten paarweise auf. Wer reist, fotografiert, und wer fotografiert, reist. Dazu gibt es die Werbefotografie. Prospekte wecken Wünsche und prägen Bilder, nach denen die Touristen auf ihren Reisen suchen. So entstehen Klischees. „Schweiz Tourismus“ wollte diesen Zirkel durchbrechen. So entstand die Idee, fünf Fotografen damit zu beauftragen, die Schweiz in ihrer spezifischen Sichtweise darzustellen. Bitte keine Werbung! – so die Vorgabe von „Schweiz Tourismus“.
Auf den Spuren Theo Freys
Das von der Fotostiftung Schweiz entwickelte Projekt wurde in Zusammenarbeit mit dem Musée de l´Elysée (Lausanne) realisiert. Schweiz Tourismus leistete finanzielle und logistische Unterstützung, nahm aber sonst keinen Einfluss. Parallel zur Ausstellung in Winterthur ist eine aufwendig gestaltete mehrbändige Begleitpublikation erschienen.
Im ersten Raum trifft der Besucher auf Kontaktabzüge des Schweizer Fotografen Theo Frey (1908–1997). Frey hatte in dokumentarischer Absicht tausende von Bildern im Mittelformat angefertigt. Er gehört zum Urgestein der Schweizer Fotografie. Er versuchte, mit seiner Kamera das Wesen der Schweizer Landschaften, der Dörfer und der Menschen zu erfassen. Die Kontaktabzüge haben den grossen Reiz, dass man dem Fotografen bei der Arbeit zuschauen kann. Man sieht, wie er Perspektiven veränderte, um die Bilder zu realisieren, die ihm wohl in seinem Inneren vorschwebten.
Der Amerikaner Shane Lavalette hat sich von diesen Bildern inspirieren lassen und die 12 Orte besucht, an denen die Fotos entstanden, die Theo Frey für die Landesausstellung 1939 angefertigt hat. Aber lässt sich wirklich ein Zusammenhang zwischen den Bildern Shane Lavalettes und denen Theo Freys erkennen? Genauer: Würde sich ein solcher Zusammenhang aus den Bildern selbst ergeben, wenn er nicht in den begleitenden Texten hergestellt würde?
Die anderen Fotografinnen und Fotografen beziehen sich nicht speziell auf Theo Frey, aber man kann davon ausgehen, dass sie alle von Fotografien der Schweiz beeinflusst sind, denn niemand kann diesen Fotos entgehen. Entsprechend hat jede Fotografin und jeder Fotograf klare Akzente gesetzt, um sich davon zu distanzieren und eine eigenständige Sicht zu entwickeln.
Fremdenangst
So hat die Deutsche Eva Leitolf das Selbstbild der Schweiz aufs Korn genommen. Die Furcht vor Einwanderung und den Folgen der Migration sind für sie ein zentrales Merkmal der Schweizer Mentalität. Sie hat es in Bilder gefasst, in denen die Landschaft, aber auch Strassen, Strassenpfosten und Leitplanken geradezu wie Begrenzungen wirken, die die Schweiz gegen alles Fremde abschirmen sollen.
Ihre Kollegin Alinka Echeverría aus Mexiko hat eine ganz andere Perspektive gewählt: Sie erlebt die Schweiz als einen überaus privilegierten Ort für Begegnungen. Entsprechend hat sie sich ganz auf junge Menschen konzentriert, die sie einzeln oder in Gruppen darstellt. Dazu schreibt sie viel über die spezifischen Situationen der einzelnen jungen Menschen. Dabei stellt sich die Frage, ob ähnliche Bilder nicht an beliebigen anderen Orten auf der Welt entstehen könnten. Aber das kann ja gerade der Reiz der Schweiz sein, dass die heutigen Generationen nicht mehr so abgrenzbar sind wie einst die Schweizer Bergbauern mit ihren Trachten.
Ein Chinese ist auch dabei. Zhang Xiao ist für die Bilder das erste Mal in die Schweiz gereist und hat sich ein Motiv gesucht, das ihm auch in China zum fotografischen Thema geworden ist: der Fluss. Entsprechend folgte er dem Rhein durch die verschiedenen Regionen, wobei er nicht nur Flusslandschaften fotografierte. Ob man jedes Foto ohne beschreibenden Kontext der Schweiz zuordnen würde, ist dabei eine unbeantwortete Frage.
Am präzisesten hat der Engländer Simon Roberts die Aufgabe gelöst. Er hat Touristen auf Aussichtsplattformen vor Schweizer Landschaften fotografiert. Diese Bilder sind von grösster fotografischer Präzision und zeugen vom souveränen Können des Fotografen, der 1974 geboren ist und es schon zum Ehrenmitglied der Royal Photographic Society gebracht hat.
Sakralisierung
Der Witz auf den meisten dieser Bilder besteht darin, dass die Touristen nicht nur die grandiosen Blicke auf Naturschönheiten geniessen. Vielmehr inszenieren sie sich selbst davor, während sie sich fotografieren lassen. Fast auf jedem Bild findet spreizen sich Touristen, winken oder machen andere bizarre Bewegungen.
In Anlehnung an ein Buch über den modernen Touristen von Dean MacCannell nennt Roberts seinen Part in der Ausstellung und der Begleitpublikation „Sight Sacralization. Die Schweiz im (neuen) Rahmen“. Seine Motive hat er sich mit Hilfe der Online-Kartierungs-Software Sightsmap zusammengestellt, und in der Ausstellung gibt es ein Display, auf dem just in time zu sehen ist, an welchen Orten der Schweiz gerade am meisten fotografiert wird und diese Bilder natürlich sofort über soziale Netzwerke verbreitet werden.
Kann man sich einen grösseren Kontrast zum Werk von Theo Frey denken, der in der Ausstellung stellvertretend für die damalige Fotografengeneration steht? Wohl kaum. Die Fotografie war damals etwas Besonderes, noch nicht allgegenwärtig. Die Landschaften waren keine blossen Kulissen, sondern der Fotograf versuchte, ihrer Herrlichkeit nahezukommen. Die Menschen spreizten sich nicht vor seiner Kamera, sondern sie bleiben mehr oder weniger schüchtern sie selbst – oft sichtlich in sich ruhend.
Simon Roberts hätte bei der Betitelung seiner Arbeiten noch einen Schritt weiter gehen können: Die Sakralisierung bezieht sich heute gar nicht mehr so stark wie in früheren Zeiten auf die Natur, sondern auf die dauerfotografierenden Besucher. Sie sind sich immer gleich wichtig, und die Schauplätze sind austauschbar. Der Tourist steht im Mittelpunkt, nicht mehr die Orte, die er besucht. Heilig ist ihm einzig sein Ich.
FREMDVERTRAUT. AUSSENSICHTEN AUF DIE SCHWEIZ
11. Februar bis 7. Mai 2017, Fotostiftung Schweiz
Grüzenstrasse 45, Winterthur
Parallel zur Ausstellung erscheint unter dem Titel Unfamiliar Familiarities eine Publikation bei Lars Müller Publishers: fünf Künstlerbücher, ergänzt durch ein Textbuch, vereint in einem Schuber.