Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, Notleidenden in aller Welt Hilfe zukommen zu lassen, wie in unserer Zeit. Internationale politische Organisationen, NGOs ohne Zahl, Stiftungen, Vereine, Initiativen und nicht zuletzt die Kirchen bieten unermüdlich ihre Dienste an. Um so schlimmer für die Bedürftigen, meinen Thomas Gebauer und Ilija Trojanow.
Selbstgefälligkeit und Heuchelei
Thomas Gebauer ist Geschäftsführer der Hilfsorganisation „medico international“, Ilija Trojanow hat als Schriftsteller mit seinen Reiseberichten und Essays internationales Renommee. Für dieses Buch sind die beiden zusammen weit gereist, haben internationale Konferenzen der Hilfsbeflissenen ebenso besucht wie Projekte in abgelegenen Regionen. Ihre fundamentale Kritik gewinnt dadurch Anschaulichkeit.
Den Ausgangspunkt des Buches bildet ein Event in Karachi, zu dem der Schweizer Botschafter, hochrangige Vertreter der UN und diverse Vertreter internationaler Firmen wie Novartis und Nestlé sowie zahlreicher Hilfsorganisationen geladen haben. Die Stimmung ist super, das Buffet üppig, und die Reste davon werden an die Armen der Stadt verteilt. Für Gebauer und Trojanow ist das nur ein weiteres Zeichen von Selbstgefälligkeit und Heuchelei.
Kritik vermeiden
Dient, so fragen sie, die Hilfe, die derzeit geleistet wird, lediglich dazu, die Hilfsbedürftigen in ihrer Abhängigkeit und ihrem Elend zu belassen? Hat die Hilfe nicht nur den Zweck, unseren Lebensstil aufrecht zu erhalten und das Gewissen zu beruhigen? Gegen Ende des Buches, an dem sie noch einmal die „fatalen Strategien“ der jetzigen Hilfsorganisationen unter die Lupe nehmen, schildern sie, wie das Fundraising immer mehr zum Lifestyle-Element wird. Spenden werde „zum Erlebnis“, und die PR-Strategen sorgen mit ihrem „Kult der Unmittelbarkeit“ für die „emotionale Vermarktung“ ihrer Projekte.
Dabei beobachten Gebauer und Trojanow eine fundamentale Veränderung in den Einstellungen speziell der NGOs. Gab es früher bei einzelnen Projekten immer auch politische Impulse gegen den Einfluss internationaler Konzerne, gegen Machtmissbrauch oder Umweltzerstörung, so vermeidet man heute alle Äusserungen, die in irgendeiner Weise Missmut oder Widerstand der Mächtigen auslösen könnten.
Im Boot mit den Mächtigen
Im Gegenteil: Die Mächtigen sitzen mit im Boot. Melinda und Bill Gates zum Beispiel machen viel Aufhebens um ihre Stiftung, und Bill darf als Redner bei den repräsentativen Versammlungen der UN nicht fehlen. Niemand spricht darüber, dass seine Stiftung auch ein Mittel zur Steuerbefreiung ist und er mit seiner Hilfe zum Beispiel im medizinischen Bereich auch dafür sorgt, dass das Thema der Aufhebung des Patentschutzes für lebenswichtige Medikamente wie Aids-Mittel gar nicht erst auf die Tagesordnung kommt.
Die Verquickung von vorgeblicher Hilfe mit wirtschaftlichen Interessen bezeichnen die beiden Autoren als „Philanthrokapitalismus“. Dazu gehören auch die viel gepriesenen Mikrokredite, die von Muhammad Yunus erfunden wurden. „Zwischen 2005 und 2010 wuchs die Mikrofinanzbranche um jährlich vierzig Prozent. Unversehens hatte sich aus einer wohlmeinenden Idee eine veritable Industrie entwickelt, deren Finanzvolumen längst die Hundert-Milliarden-Dollar-Grenze überschritten hat.“ Die Folge: Viele Kredite können nicht mehr zurückgezahlt werden, und die Gesellschaften haben sich nach kapitalistischem Muster verändert, so dass traditionelle Bindungen und Solidaritäten verloren gingen.
Spendenerlebnis
Wirkliche Hilfe und wirklicher Altruismus sind in den Augen von Thomas Gebauer und Ilija Trojanow ohne tiefgreifende Korrektur unseres westlich-kapitalistischen Lebensstils nicht zu haben. So polemisieren sie heftig gegen die utilitaristischen Ansätze des australischen Philosophen Peter Singer, der meint, mit seinen Methoden Hilfe optimieren zu können. Auf diesen Ansätzen gründen inzwischen ganz neue Plattformen zur Vermittlung von Spendenmöglichkeiten wie helpdirect.org, Spendenportal.de oder betterplace.org. Auch hier geht es immer nur um das „Spendenerlebnis“ und nicht um tiefgreifende Korrekturen.
Im Schlusskapitel ihres Buches skizzieren Gebauer und Trojanow Ansätze von Hilfeleistungen, die ihren Kriterien entsprechen. Sie sehen aber beide, dass diese Ansätze sehr bescheiden und fragil sind – was nicht gegen sie sprechen muss. Der Wert ihres Buches liegt aber darin, dass sie kenntnisreich und detailliert darlegen, wie die jetzigen Formen der Hilfe hauptsächlich der Bestätigung unseres fragwürdigen Lebensstils dienen. An Stelle gerechterer Verteilung vorhandener Ressourcen setzt man heute allein auf Wirtschaftswachstum: „Wie üppig muss das weltweite Buffet ausfallen, damit genug für alle Hungernden abfällt?“
Thomas Gebauer, Ilija Trojanow: „Hilfe? Hilfe! – Wege aus der globalen Krise“, 254 Seiten, S. Fischer Verlag 2018.