Die ersten vier Teile der Artikelserie zeichneten die Auflösung der staatlichen Ordnung in den Fällen Somalia, Afghanistan, Jemen und Libyen nach. In dieser fünften Folge richtet sich das Augenmerk nochmals zusammenfassend auf die Rolle der Armeen, um dann unter diesem Gesichtspunkt auch den Fall Syrien näher zu beleuchten.
Die Rolle der Armeen
In den vier Fällen, in denen arabische Staaten als zusammengebrochen gelten müssen, sind es die Armeen gewesen, deren Auflösung den Zusammenbruch besiegelte. Sie zerbrachen und erwiesen sich als unfähig, die Bildung bewaffneter Banden zu verhindern. Wenn einmal die zentrale Staatsmacht auf diesem Weg aufgelöst war, konnte der Nationalstaat nicht überleben.
IN SOMALIA geschah dies, weil die bewaffneten Stämme sich als stärker erwiesen als die langjährige Macht des regierenden Generals Siad Barré. Dieser schwächte sich selbst zuerst durch einen verlorenen Krieg. Dann stützte er sein Regime einseitig ab, indem er einen der Stämme – seinen eigenen – zum Träger seiner Herrschaft erhob, während die wichtigsten Stammesgruppierungen der Opposition massakriert wurden.
Nach der Absetzung Siad Barrés kämpften die Stammesführer gegeneinander, indem jeder seine eigenen Milizen aufstellte. Als einziger gemeinsamer Nenner, der Gruppen über die lokalen und Stammeszugehörigkeiten hinaus zu verbinden vermochte, diente der Islam. Der religiöse Einfluss zeigte sich zuerst in relativ gemässigter Form als „Union der Islamischen Gerichte“. Später, nach dem Versuch einer durch die USA ermutigten Einmischung von aussen durch die äthiopische Armee, radikalisierte er sich in Gestalt der Schebab.
IN AFGHANISTAN zerbrach die Armee unter dem Staatsstreich der Kommunisten, dann an deren innerem Streit und schliesslich am Einmarsch der Russen. Indem die Armee unter den Russen weiter im Einsatz blieb, verlor sie ihre Glaubwürdigkeit als nationale Institution. Nach Abzug der russischen Besetzer und dem Verlust der sowjetischen Unterstützung erlag sie schliesslich dem Ansturm der islamistischen Kampfgruppen. Doch die Kampfgruppenchefs (auch Warlords genannt) bekämpften einander zwischen 1991 und 1996, bis eine zweite Welle von Islamisten, unterstützt durch das pakistanische, saudische und zu Beginn auch amerikanische Ausland, die Macht in Kabul ergriff.
Diese zweite Welle waren die Taliban. Sie wurden Ende 2001 von den Vereinigten Staaten und Nato-Mächten vertrieben, konnten jedoch in Pakistan überleben und nach Afghanistan zurückkehren. Die dortigen Besatzungsmächte versuchten eine neue nationale Armee aufzustellen. Doch um zu vermeiden, dass sie von den Taliban aufgerieben würde, sahen sie sich gezwungen, diese neue Armee zu finanzieren und mit eigenen Soldaten zu verstärken. Da die Aussenwelt schwerlich die Kosten von Militärpräsenz und Ameefinanzierung auf unbestimmte Zeit hinaus tragen wird, ist der bisher von ihr aufgebaute und beschützte Staat höchstwahrscheinlich dem Untergang geweiht.
In JEMEN spaltete sich die nationale Armee in Teile, die dem abgesetzten langjährigen Staatschef, Ali Abdullah Saleh, loyal blieben, und andere, die zu dem neuen, von Aussenmächten – Uno und Golfstaaten – eingesetzten bisherigen Vizepräsidenten hielten. Die Pro-Saleh-Armeeführer unterstützten die religiöse Minderheit der Zaiditen, welche seit 1984 im Aufstand gegen die Zentralregierung standen und von ihr bekämpft wurden. Zusammen mit den zaiditischen Huthis konnten sie sich der Hauptstadt Jemens und der wichtigsten bewohnten Teile des Landes bemächtigen. Die Hadi-Regierung musste nach Saudi-Arabien fliehen.
Saudi-Arabien und befreundete Staaten suchten darauf der Huthi-Bewegung durch Bombardierungen Herr zu werden. Doch die saudische Koalition konnte den Huthis nur die südjemenitischen Provinzen mit Aden entreissen. In dem zurzeit noch tobenden Bürgerkrieg steht die eine Hälfte der nationalen jemenitischen Armee auf Seiten der Saudis und al-Hadis, die andere auf der Gegenseite der Huthi-Bewegung zusammen mit Ali Saleh Abdullah. Radikale islamistische Gruppen, ein Arm der al-Kaida und einer des IS, sind präsent und aktiv im Lande. Sie profitieren vom Zusammenbruch der jemenitischen Wirtschaft und des jemenitischen Staates.
In LIBYEN ist nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Ghaddafi und der Niederlage jener Armeeteile, die zu ihm hielten, keine neue nationale Armee zustande gekommen. Die bewaffneten Gruppen, die den „Volkskrieg“ geführt und mit Luftunterstützung der Nato-Kräfte gewonnen hatten, weigerten sich, ihre Waffen abzugeben, übten wachsenden Druck und Einfluss auf die neu gewählten Parlamentarier und die Exekutive aus und verhinderten die Bildung einer nationalen Armee. Drei Regierungen, die alle drei von „Milizen“ abhängig waren, rangen gegeneinander, während die Sicherheit und die Wirtschaft Libyens zusammenbrachen.
In allen vier Fällen des bereits weitgehend oder voll eingetretenen Zusammenbruchs hatten die nationalen Streitkräfte – deren Ausfall oder Spaltung – den entscheidenden Anteil. Dies lässt vermuten, dass es auch in den Staaten, die man als mögliche oder sogar wahrscheinliche weitere Opfer eines Zusammenbruches ansehen kann, ebenfalls die Streitkräfte sein werden, die das Geschick dieser Staaten bestimmen. Dazu gehören Syrien, der Irak, eventuell auch Ägypten und auf lange Sicht möglicherweise auch Saudi-Arabien.
Der Fall SYRIEN
Syrien erfuhr nach dem Volksaufstand vom März 2011 eine Aufspaltung der nationalen Armee mehr entlang horizontaler als vertikaler Bruchlinien. Dies war durch die innere Struktur der syrischen Streitkräfte gegeben. Seit 1970, als Hafez al-Asad die Macht ergriff, wurden ihre wichtigsten Scharnierpositionen durch alewitische Offiziere besetzt. Das gleiche galt von den Sicherheits- und Geheimdiensten. Die Asad-Famiie selbst gehörte zu der alewitischen Minderheit.
Im Gegensatz zu den vorausgegangenen Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit Syriens, in denen die Staatsstreiche durch Armeeoffiziere sehr zahlreich gewesen waren, brachte die alewitische Kontrolle über Armee und Sicherheitskräfte für dreissig Jahre Stabilität. Die Alewiten, eine Minderheit von rund 15 Prozent der Bevölkerung, wussten genau, dass eine Erschütterung oder gar Beseitigung ihres Regimes vor allem ihnen selbst schlecht bekommen würde. Schliesslich hatten sie während Jahrhunderten, bevor ihnen Hafez al-Asad eine Machtposition verschafft hatte, eine stark diskriminierte Minderheit gebildet.
Im Sommer 2011 entstand die Volksbewegung gegen Asad, die weitgehend von Angehörigen der sunnitischen Mehrheit getragen wurde. Als der Armee befohlen wurde, auf die anfänglich friedfertig protestierenden Massen zu schiessen, ergaben sich unvermeidlich Spannungen. Auf der einen Seite standen die alewitischen Eliteeinheiten und führenden Armeekommandanten, auf der Gegenseite die weitgehend sunnitische Basis der Streitkräfte.
Dies führte ab August 2011 zu Desertionen sunnitischer Mannschaften und Offiziere meist unteren Ranges, zur Bildung der Freien Syrischen Armee (FSA) und zur Bewaffnung des bis dahin auf Gewaltlosigkeit ausgehenden Widerstands. Die Desertionen reduzierten den Mannschaftsbestand der Armee, doch deren Struktur blieb bestehen, und der Widerstandswille der alewitischen Machthaber innerhalb der Streitkräfte wuchs mit der Gefahr, der sie sich selbst, die Ihrigen und ihr Regime ausgesetzt sahen.
Horizontaler Bruch in der Armee: Desertion
Natürlich waren längst nicht alle sunnitischen Soldaten und Offiziere bereit, das Risiko und die mit dem Begriff „Desertion“ normalerweise verbundene Schmach auf sich zu nehmen. Die Ablehnung der alewitisch gesteuerten Armee durch die Sunniten zeigte sich auch darin, dass die meisten Sunniten, soweit sie es irgend vermochten, dem Militärdienst auszuweichen und ihre Rekrutierung zu vermeiden versuchten.
Für den Bürgerkrieg, der den Desertionswellen folgte, bedeutete der horizontale Bruch innerhalb der Streitkräfte, dass das Regime über eine zwar funktionierende, aber in ihren Mannschaftsbeständen reduzierte Armee verfügte. Die Staatsführung musste aus den Desertionen auch die Lehre ziehen, dass bestimmte Einheiten besser nur in Kämpfe aus der Distanz eingesetzt würden. Artilleriebeschuss und Bombenabwurf waren weniger riskant als Nahkämpfe mit grösseren Mannschaftsverlusten, engerem Kontakt mit den Gegnern und daher mehr Gelegenheit, zu desertieren.
Der Umstand, dass die syrische Armee zwar intakt blieb, aber zu wenig Mannschaften besass, um das ganze Land zu beherrschen und zu kontrollieren, bestimmte die Art der Kriegsführung. Es entstand ein Krieg mit zahlreichen Fronten, von denen jedoch immer nur einzelne aktiv waren, weil dort Offensiven von Seiten der Regierung oder der Rebellen in Gang waren. Zahlreiche Ortschaften und städtische Quartiere wurden belagert, manche davon jahrelang. Für Belagerungen konnten die Syrer Hilfstruppen einsetzen sowie Artillerie. Sie mussten keine Nahkämpfe riskieren, die verlustreich werden konnten und auch die Möglichkeit von Desertionen boten.
Bedarf nach ausländischen Hilfstruppen
Angesichts des Mangels an verlässlichen eigenen Truppen wurde es für das Regime zur Überlebensfrage, Hilfstruppen aus dem Ausland zu erhalten. Diese kamen zuerst von Seiten des libanesischen Hizbullah, dessen geübte Kämpfer in Qusair nahe der libanesischen Grenze, dann in Homs, später in Aleppo von grosser Bedeutung waren. Doch die Rebellen vermochten sich in der Provinz Idlib festzusetzen. Für sie bot diese den Vorteil, dass sie einerseits Zugang zur Türkei besass, andrerseits aber auch das Vordringen nach Lattakiya ermöglichte, besonders seitdem der strategische Punkt von Jisr as-Sughur, der den nordwestlichen Zugang nach Lattakiya beherrscht, im April 2015 in ihre Hände gefallen war.
Lattakiya, genauer die Bergkette über der Küste, Jebel Alawi genannt, ist die engste Heimat der syrischen Alewiten. In den Jahrzehnten ihrer Prosperität waren die ganze Provinz mit der Hafenstadt Lattakiya und die Nachbarprovinz Tartous an der Küste zu ihrem Wohngebiet geworden. Die Bedrohung der Heimat der wichtigsten Minderheitsgruppe, auf die das Regime sich abstützte, war für Asad eine Frage von Leben und Tod. Dies führte dazu, dass Damaskus einen Hilferuf an Russland ergehen liess. Putin ging darauf ein und entsandte im September 2015 seine Luftwaffe, um – wie es in Moskau hiess – einen von aussen bewirkten Regimewechsel zu verhindern.
Auch Iran griff direkter ein denn zuvor. Die Revolutionswächter entsandten Berater, und sie sorgten dafür, dass schiitische Milizen aus dem Irak, aus Iran und sogar freiwillige Afghanen aus der schiitischen Hazara-Minderheit, die in Iran Zuflucht gesucht hatten, in Syrien auf Seiten der Regierung mitkämpften.
Bedingungen für eine De-Eskalation
Die ersten Bombardierungen, welche die Russen durchführten, waren konzentriert auf die Front zwischen Idlib und den beiden Mittelmeerprovinzen Lattakiya und Tartous. Sie bezweckten die dortige Bedrohung des alewitischen Herzgebietes aufzuheben. Später dehnten sich die russischen Luftaktionen über ganz Syrien aus. Mit Hilfe der Russen, der Iraner und der Milizen, die Iran für Syrien mobilisierte, Hizbullah und andere, konnte die Regierung ihrerseits im Verlauf des nächsten Jahres zur Offensive gegen Aleppo übergehen und Ende 2016 die schwer zerstörten östlichen Teile der Stadt, die sich seit 2012 in Händen der Rebellenorganisationen befanden, nach sechs Monaten intensiver Belagerung zurückgewinnen.
Alle ausländischen Mächte sind sich einig darin, dass die beiden radikal-islamistischen Kampfgruppen, IS und Nusra Front (Nusra in ihren verschiedenen Verwandlungsformen), niedergeschlagen werden müssen: Amerikaner, Russen, Iran, die Türkei, wahrscheinlich auch Saudi-Arabien und natürlich auch die syrische Regierung Asads. Dies wird dazu führen, dass beide Gruppen in diesem oder im kommenden Jahr ihre Territorien verlieren werden.
Doch ob und wie lange danach sie als Untergrundorganisationen fortbestehen und weiter werden agieren können, ist ungewiss. Darüber wird unter anderem auch die innere Entwicklung in Syrien und im Irak mitbestimmen. Wenn in den beiden Ländern überlebensfähige Regime entstehen, wird das die Aussichten der gewalttätigen Islamisten in Syrien und im Irak verringern. Gelingt die staatliche Stabilisierung nicht, bekommen die Gewalttäter Auftrieb.
Übersicht zur Serie "Failed States"
Teil 1: Stammesgesellschaft und Nationalstaat, Religion und Moderne, Fall Somalia (erschienen am 7. März 2017)
Teil 2: Fall Afghanistan (erschienen am 9. März 2017)
Teil 3: Fall Jemen (erschienen am 11. März 2017)
Teil 4: Fall Libyen (erschienen am 13. März 2017)
Teil 5: Rolle der Armeen: Fall Syrien
Teil 6: Rolle der Armeen: Fälle Irak, Saudi-Arabien, Ägypten (erschienen am 17. März 2017)